Café-Seminar
zu Utopie und SF

Auf dem Kongress zu Science Fiction, Politik, Utopie - 31.5.-2.6.2002 in Bremen
"Out of this World 2"

- geleitet von Detlev Nissen -

 

 

 

 

Ich möchte meine Erfahrungen auf einem interessanten Seminar schildern. Dabei kann meine Schilderung nicht vollständig sein, denn ich kann nur über jene Prozesse berichten, die ich selbst erlebt habe - eine "Gesamtübersicht" gibt es nicht, weil die Methode selbst den Schwerpunkt auf den Prozeß und nicht auf ein abschließbares Ergebnis legt. In der Auswertung des 1. Kongresses "Out of this world" wurde deutlich, daß die Teilnehmenden zu wenig selbst aktiv werden konnten - diesem Bedürfnis kam das Café-Seminar diesmal entgegen. Als Moderator koordinierte Ditlev Nissen (Utopiske Horizonter - Christiana/Kopenhagen) dieses Seminar:

Das Seminar fand an einem Vormittag (10:30 Uhr bis 14:00 Uhr) statt, der Raum war als Café mit einzelnen Tischen, einer Rose und einer brennenden Kerze vorbereitet. Auf jedem Tisch befand sich ein Aufsteller, auf dem die Regeln für ein Café-Seminar gedruckt waren:

  • Ein Platz für ein wesentliches Gespräch.
  • Zuhören ist die wichtigste Fähigkeit.
  • Vermeide Diskussionen.
  • Beginnt mit einer Runde.
  • Behaltet den Dialog am Tisch.

Das Seminar lebt davon, daß inhaltliche Gespräche am Tisch geführt werden, es dann aber einen Austausch zwischen den Tischen gibt. Um sich kennen zu lernen und gleichzeitig die Methode in einem einfachen Fall zu erklären, wird mit einer inhaltlich einfachen Runde begonnen:

I. Runde:
I.1. Alle am Tisch Sitzenden erzählen, wer sie sind, woher sie kommen und warum sie hier sind. Gemeinsam sollen sie dann ihrem Tisch einen Namen geben und auf die Rückseite der Aufsteller schreiben.
I.2. Nach kurzer Zeit wird diese Phase beendet. An jedem Tisch bleibt einer der Teilnehmenden zurück, die anderen verteilen sich an andere Tische. Der Bleibende erzählt nun den Hinzugekommenen, warum die Gruppe "ihrem" Tisch den jeweiligen Namen gegeben hat. I.3. Mit den entsprechenden Informationen kehren alle an ihren Ausgangstisch zurück und berichten.
In Bremen hatten sich die Beteiligten folgende Tischnamen ausgedacht: "Nettes Kommunikationscafé", "Public Space", "Kosmos-Gesellschafts-Baukasten", "Die Freie Kooperative" und "Will-Kür und Dystopie".

II. Runde:
II.1.: Ab jetzt wird den Runden und dem Austausch jeweils mehr Zeit gegeben. In der zweiten Runde soll über die zwei Fragen gesprochen werden:

  • Was bedeutet utopisches Denken für mich/uns?
  • Welche Rolle spielt utopisches Denken in meinem/unserem Alltag?
An meinem Tisch wurden folgende Themen besprochen:
  • Als Utopien werden normalerweise "große Bilder" verstanden - aber für mich ist es wichtiger, dass ich unterdrückte Bedürfnisse erkennen kann...
  • Auch Politische Bildung sollte eigentlich dazu dienen, sich bewußt zu machen, wie man leben will.
  • Utopisches Denken bedeutet für Politik, vor allem politischen Forderungen zu stellen, die eine Dynamik in Richtung meiner Utopie entwickeln können.
  • Sind auch Tagträume Utopie? Nur, wenn sie systemverändernden Impetus haben.
II.2. Jetzt blieb wieder je ein Teilnehmender am Tisch sitzen, die anderen schwärmen aus. Ich erfuhr an einem anderen Tisch, daß sie über folgende Fragen gesprochen haben:
  • Welches Verhältnis haben Utopien und Dystopien? Während es in Dystopien um Kritik des Gegebenen geht, geht es in Utopien um Perspektiven. Diese beiden Momente sollten aber miteinander vermittelt sein.
  • Es wurde über Utopien/Dystopien in Filmen gesprochen: Meist spielen "Macker-Helden" die größte Rolle. Befriedigt die Kulturindustrie damit ein massenhaft vorhandenes Bedürfnis oder geht es nur um die Effekte der Ballerei?
  • Typischerweise werden in Filmen "einfache Lösungen" angeboten - tatsächlich jedoch ist eine Utopie eigentlich nie abgeschlossen. - Damit sind sie wieder zurück beim Wechselverhältnis von Kritik und Perspektive...
II.3. Diese Information und jene von den anderen Tischen wird dann am eigenen Tisch berichtet.

- Pause -

III. Runde:
In der dritten Runde werden die Gesprächstische neu "sortiert". Alle Teilnehmenden entschieden sich, an welchem Thema der folgenden möglichen Themen sie weiter arbeiten wollen:

  • Utopien im Alltag
  • Utopie und Organisation
  • Utopie und Ökonomie
III.1. Zu jedem Thema wurden ein oder zwei neue Tischgruppen gebildet. An jedem Tisch sollte dann bezüglich des Themas ausgehend von der Frage "Was ist meine Utopie..." debattiert werden. Als Einstimmung hörten alle Beteiligten 5 Minuten Musik, um sich vor dem Reden auf ihre eigene Utopie besinnen zu können...
Ich befand mich an einem Tisch zum Thema "Utopie und Organisation". Dazu wurden folgende Inhalte besprochen:
  • Eine meiner Utopie angemessene Organisationsstruktur läßt sich mit Fraktalen und Bifurkationsbildern aus den Selbstorganisations- und Chaoskonzepten versinnbildlichen. Es wurde vermutet, daß sich diese Konzepte erst entwickeln konnten, weil es die entsprechenden gesellschaftlichen Utopien bereits gab...
  • Inhaltliche Säulen der Organisation einer utopischen Welt sind: Freiwilligkeit, gegenseitige Hilfe ("Altruismus"), flache Hierarchien (Unterschiede in Fähigkeiten werden anerkannt, aber daraus leiten sich keine Machtansprüche ab), Egalitarismus (bezüglich der Macht).
  • Zwei Teilnehmerinnen konnten ihre Vorstellungen nicht formulieren. Von ihnen kamen eher skeptische Nachfragen, wie kontrolliert werden könnte, daß nicht einer alles zerstört.
  • Als wichtig wurde von allen angesehen, daß viel Zeit zur Verfügung stehen muß, um verschiedene Wege auszuprobieren und auch Fehler machen zu können.
III.2. Jetzt wurden diese Gesprächsrunden wieder "zusammen getragen". Dies geschah diesmal nicht durch Ausschwärmen mit Ausnahme eines für die anderen Berichtenden, sondern dadurch, daß an jedem Tisch je ein Teilnehmender aus jedem Themenbereich sitzen (durch eingefärbte Schnitzel konnten sich die Personen zuordnen...).
  • Aus einer anderen Organisationsgruppe: Als Utopie wurde vorgestellt: eine amorphe Organisation, die sich ständig selbst organisieren kann. Das Prinzip liegt nicht in der Form, sondern im Prozeß der Veränderung (wie bei "Lernenden Organisationen", was es als kapitalistisches Managementprinzip schon gibt).
  • Utopie: selbstähnliche Organisationsform (auch Macht verästelt sich dadurch in kleinste Räume), Zwischenräume in organisierten Formen (entstehen dadurch, daß es eine Vorgabe gibt),
  • Macht es noch Sinn, von "Fortschritt" zu reden? Allerdings ist nicht jede beliebige Entwicklungsrichtung gleich berechtigt, es gibt doch sicher so etwas wie die "falsche" Richtung...
  • Weiter zu klärende Fragen sind: Was sind "Macht" und "Herrschaft"? Wir werden Arbeit und Entscheidungen organisiert? Woran orientiert sich die Forderung nach "Effizienz"? Gib es objektivierbare Rechte? Soll "Herrschaftsfreiheit" gefordert werden?
  • Provokation als Mittel der Veränderung - erst dadurch zeigen sich die (unausgesprochenen) Regeln.
  • Aus einer Ökonomiegruppe: Es ging um Zwänge und Tausch, Geld und Tauschbörsen. Gewünscht wurde, daß es keine Zwänge gibt, eine bestimmte Arbeit zu tun. Es wird vorausgesetzt, daß Gesellschaft über Ökonomie organisiert wird - insgesamt wurde eingeschätzt, daß es an diesem Tisch gar nicht so utopisch zuging, weil die Vorstellungen innerhalb normaler Handelsbeziehungen blieben.
  • Andere Ökonomiegruppe: Recht auf Faulheit - Existenzgeld als Utopie...
  • Aus einer "Utopie im Alltag"-Gruppe: Hier ging es um Technik und Macht, gefordert wurde, daß soziale Belange vor der technischen Machbarkeit stehen müssen.
  • Als wichtige Frage erwies sich für "utopische Gesellschaften": Wie wird über Ressourcen, die nicht in beliebiger Menge vorhanden sind, verfügt, wer hat das Sagen?
  • Alle Utopien enthalten soziale Komponente.
  • Möchte ich, daß auch andere meine Utopie teilen? - was bedeutet es, Respekt voreinander zu haben?
  • "Utopien" sollten abgegrenzt werden von Tagträumen und Wünschen - obwohl es auch persönliche Bedürfnisse gibt, die utopischen Charakter haben.
  • Reale Utopien im Bereich Mobilität, Ökologie, Leben mit Kindern, Arbeit...
  • Um Utopien realisieren zu können, ist es sinnvoll, sich zu organisieren (alternative Netzwerke...)

Einige der Ergebnisse wurden jeweils visualisiert und im Raum aufgehängt. Obwohl natürlich keine Frage abschließend geklärt werden konnte, konnten alle Teilnehmenden ihre Interessen und ihr Wissen einbrin-gen und dadurch auch eine gute Basis für die nachfolgenden Workshops und Einzelgespräche bereiten.
Der Zeitpunkt der Durchführung des Seminars war auch optimal: Nachdem am Abend vorher der erste große Workshop mit inhaltlichen Anregungen stattfand (auf die in Cafégesprächen auch oft Bezugnahmen erfolgten), führte das Seminar dazu, daß alle - über die schon vorher vorhandenen Kontakte hinaus - sich besser kennen lernen konnten. Allein dies führte dazu, daß einer, der sich am Seminar nicht beteiligt hatte, später erstaunt meinte, daß danach in den Workshops die Atmosphäre sich sehr verändert hatte...


Zum Utopieprojekt des Philosophenstübchens

Macht, was ihr wollt! - Utopien heute

Alternativen - Archiv für Utopien, Visionen, Anarchie & Selbstorganisation -

Wer hat utopische Literatur aller Art doppelt, übrig, zu verschenken?

Im Rahmen einer allgemeinen Suche nach konkreten Utopien wollen wir in der Projektwerkstatt Saasen einen entsprechenden Archivteil einrichten und ausstatten.

Bitte schickt Eure Spenden an:
Kabrack! - archiv in der
Projektwerkstatt Saasen
Ludwigstr. 11
35447 Reiskirchen/Saasen
http://come.to/projektwerkstatt

[Homepage] [Gliederung]






- Diese Seite ist Bestandteil von "Annettes Philosophenstübchen" 2002 - http://www.thur.de/philo/utopie.htm -