Lernen Als ich vor der Teilnahme an einem Bildungsseminar aufgefordert war, einen kleinen Bericht über "Lernerfahrungen" zu schreiben, dachte ich fast sofort an das schulische Lernen. Meine Lernerfahrung bezog sich dann auch auf etwas, was für mich mit Schule und Lernen im akademischen Bereich zusammen hängt: Das Merken von Lerninhalten. Wie sehr ich dadurch meinen eigenen Blick eingeschränkt hatte, wurde mir im Seminar bald klar...Lernen in der Kritischen Psychologie * Das Lernen im Tierreich * Das Lernen von Menschen * Was macht das Menschsein aus? * Lernen der gesellschaftlichen Menschen * Lernen im Kapitalismus * Die Institution Schule Schule und Macht * Widerständiges Lernen - Lernwiderstände * Die Lehrenden * Verschiedene Fragestellungen * Lernen und Arbeit * Lernmotivationen * Kritik im Lernprozess * Literatur * Zur Problematisierung des "Selbst" siehe http://www.thur.de/philo/kp/ich.htm siehe dazu http://www.thur.de/philo/kp/erziehung.htm Lernen führt in der individuellen Entwicklung (Ontogenese) dazu, eine stets wachsende personale Handlungsfähigkeit zu erreichen, d.h. eine Erhöhung der Teilhabe an der Verfügung über individuell relevante gesellschaftliche Lebensbedingungen als Erhöhung der subjektiven Lebensqualität (Holzkamp 1987: 170). Ein Ziel des Lernens ist dabei das immer weitergehende Durchschauen und Beherrschen der eigenen Lebensumstände, wobei die Lebenszusammenhänge nicht als natürliche, sondern als gesellschaftliche und historisch entstandene und somit veränderbare begriffen werden können (Seidel, Ullmann 1977: 152). Diese Lernform wäre der verallgemeinerten Handlungsfähigkeit zuzuordnen. Es geht hier um das Lernen der Möglichkeit des Überschreitens der Handlungsmöglichkeiten, es geht um das Erlernen des begreifenden Denkens (begreifendes Denken ist im Unterschied zum deutenden Denken die zur verallgemeinerten Handlungsfähigkeit gehörende Denkform, vgl. Holzkamp 1985: 386ff.) und es geht um Kreativität (Bedingungen in Frage stellend Neues entwickeln). Der restriktiven Handlungsfähigkeit unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen (dazu im nächsten Punkt mehr) entspricht ein Lernen der eingeschränkten Verhaltensmöglichkeiten, das Lernen des deutenden Denkens, das Lernen von Problemlösungen innerhalb als gegeben akzeptierter Bedingungen und das lernende Erkunden der gegebenen Bedingungen. Kinder sind noch nicht vollständig in die gesellschaftliche Lebenswelt eingebunden, sie müssen sich gesellschaftliche Bedeutungszusammenhänge erst aneignen. Ihre Motivation besteht primär darin, die Ausgeliefertheit an diese Bedingungen und Zusammenhänge zu vermindern, indem sie ihre personale Handlungsfähigkeit ausweiten (Holzkamp 1985: 436, 475). Wenngleich für Erwachsene die für Kinder noch vorhandene Diskrepanz zwischen schon erfahrener und möglicher Gesellschaftlichkeit nicht mehr bestimmend ist, so endet für Menschen das Lernen nicht mehr notwendigerweise mit der Kindheit und Jugend. Es gilt nicht: "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr."! Menschliche Handlungsfähigkeit kann auch im Erwachsenenalter immer weiter anwachsen, die Teilhabe an der Verfügung über relevante gesellschaftliche Lebensbedingungen kennt keine "natürlichen" Grenzen. Für Klaus Holzkamp setzen Lernprozesse vor allem dann ein, wenn ich in meinen Handlungen nicht mehr weiter komme, wenn ich ohne Lernen keine qualitativ neuen Modi der Realisierung von Handlungsmöglichkeiten finde (Holzkamp 1987: 178). Seiner Meinung nach wird eine besondere "Lernschleife" ausgeführt, in der die benötigten Voraussetzungen angeeignet werden, damit dann die Handlung weiter geführt werden kann (Holzkamp 1996: 268). Der Subjektstandpunkt der Kritischen Psychologie zeigt sich in ihren Lernkonzepten darin, dass nicht nur wie in Reformschulkonzepten die SchülerInnen als Subjekte zum Gegenstand der Überlegungen machen, sondern dass jene, die sich mit Lernen beschäftigen, selbst den Subjektstandpunkt einnehmen (Holzkamp 1991: 197). Holzkamp verwendet dazu u.a. seine eigenen Lernerfahrungen und nimmt Erfahrungen anderer diesbezüglich auf. Er zielt damit eine "Lerntheorie vom verallgemeinerten Standpunkt des Subjekts aus" an. Frigga Haug denkt weiter: "Unter solchen Voraussetzungen erwartet man, dass subjektive Lernerfahrungen das zentrale Forschungsmaterial werden" (Haug 2003: 126). Sie bezieht mit der Auswertung selbst erarbeiteter Lerntagebücher Lernende selbst als Forschende mit ein (über weitere Unterschiede siehe Haug 2003). Lernen im Kapitalismus Die genannten allgemeinen Aussagen über das Lernen von Menschen beziehen sich von vornherein auf das gesellschaftliche Sein der Menschen. Gesellschaft ist aber immer eine konkrete historisch entstandene. Da wir in der kapitalistischen Gesellschaftsform leben, müssen wir diese konkreten Bedingungen in unsere Überlegungen einbeziehen (ehemalige DDR-BürgerInnen können mit Hilfe der hier entwickelten Begrifflichkeit durchaus auch über ihr Leben in der damaligen Gesellschaft reflektieren). Unter bürgerlich-kapitalistischen Bedingungen sind die Menschen von der bewussten gemeinsamen Verfügung über ihre eigenen Angelegenheiten ausgeschlossen (Holzkamp 1983: 139). Die Reproduktion des individuellen Lebens ist nur möglich unter Bedingungen, in denen jeder Produzent in Konkurrenz zum anderen steht (als Unternehmer wie als Arbeitskraftverkäufer). Die Durchsetzung individueller Interessen kann unter diesen Bedingungen immer nur bedeuten, die Interessen anderer zu beschneiden. Wir werden in Feindschaft untereinander gedrängt; gleichermaßen schaden wir damit unseren eigenen Interessen, die es erfordern würden, gemeinsam unsere Verfügung über die Lebensbedingungen auszuweiten und qualitativ zu entwickeln. Aber auch diesen Bedingungen sind wir nicht nur ausgeliefert, sondern wir können uns ihnen gegenüber bewusst verhalten. Wir haben die Möglichkeit, uns auf den gegebenen Spielraum einzuschränken (restriktiv), oder die zweite Möglichkeit, (verallgemeinert) darauf hin zu arbeiten, die Spielräume tendenziell auszuweiten. Welche der Möglichkeiten genutzt wird, hängt von der subjektiven Funktionalität der Handlungsweise für die/den Einzelnen ab. Einerseits hat das Individuum die Möglichkeit sich auch "gegen alle Welt" z.B. bewusst widerständig wenigstens geistig distanziert zu verhalten, andererseits kann es darauf abzielen gesamtgesellschaftliche Bedingungsänderungen zu bewirken. "Dazwischen" kann es innerhalb der gesamtgesellschaftlich gegebenen Strukturen auch kleinere Netzwerke nutzen oder mit entwickeln, die seine und andere Lebenslagen schon so weit verändern können, dass das bewusste Verhalten in Richtung verallgemeinerter Handlungsfähigkeit leichter fällt.
Wohin fährt der "Bildungs-Bus"? Angesichts der viel weiter reichenden Dimension menschlichen Lernens in Richtung der individuellen Aneignung höchstmöglicher personaler Handlungsfähigkeit ist die Schule sogar als Ort der "Verwahrlosung der Lernkultur" (Holzkamp 1992: 234) anzusehen. Unter solchen Bedingungen ist es fast nur möglich, defensiv zu lernen. Es geht nur darum, Nachteile oder Bedrohungen abzuwenden, die unmittelbaren Anforderungen zu bewältigen (Holzkamp 1991: 199) also z.B. nur zu pauken, um schlechte Noten zu vermeiden und durch die Schulzeit zu kommen. "Unter subjektiv und objektiv schwierigen Bedingungen gerät es für Menschen zur Gewohnheit, lernwiderständig zu sein. Dies ist für die Konservierung menschenunwürdiger Zustände eine praktische Haltung, die ich Versteinerung genannt habe." (Haug 2003: 71) Die zweite Möglichkeit, der verallgemeinerten Handlungsfähigkeit entsprechend, ist das expansive Lernen. Es ist sachinteressiert, folgt eigenen positiven Gründen; die Lernanforderungen sind im eigenen Interesse, weil das zu-Lernende für das lernende Individuum nützlich oder wissenswert ist (Holzkamp 1991: 199). Diese beiden Formen möglichen Lernens sind natürlich nur Idealtypen, die typische Reaktionsweisen auf die gegebenen entfremdenden Prämissen kennzeichnen; im realen Lernen gibt es vielfältige Mischformen. Widerständiges Lernen - Lernwiderstände Vom Lernen "als" Widerstand zum Lernen "von" Widerstand Unter den gegebenen Bedingungen/Prämissen ist es recht unwahrscheinlich, dass expansives Lernen gegen defensives entwickelt und aufrecht erhalten wird. Deshalb werden Verhaltensweisen, die als "widerständiges Lernen" bezeichnet werden, ein großes Problem für engagierte PädagogInnen und Eltern. Wir haben gezeigt, dass solches Verhalten unter den gegebenen Bedingungen fast notwendigerweise bevorzugt entsteht. Es zeigt sich u.a. durch Zurückgenommenheit, Unengagiertheit und Halbherzigkeit (Holzkamp 1987: 161).Lern-Widerstände Was können wir nun tun? Wir können die Widerstände nicht wegtherapieren, wir können sie nicht moralisierend verwerfen, wir können nicht so tun, als würden sie unter diesen Bedingungen nicht nahegelegt sein. Was wir tun können ist, "entwickeltere Lernformen" zu entwickeln, "in welcher widersprüchliche Lerninteressen so reflektiert und verarbeitet werden, daß sie nicht mehr den Lernprozeß selbst beeinträchtigen" (Holzkamp 1987: 162). Das ist natürlich für Kinder, die selbst die gesellschaftliche Prämissenlage noch nicht voll durchschauen können, weil sie aufgrund ihrer geringen Lebenserfahrungen und ihrer eingeschränkten gesellschaftlichen Funktionen noch nicht vollständig in die gesellschaftliche Vermitteltheit eingebunden sind, nur in Ansätzen möglich. Allerdings bietet eine unterstützte Reflexion über ihre Erfahrungen im Schulsystem gerade jene Ansatzpunkte für sie, die Problematik der Prämissen verstehen zu lernen. Es kommt darauf an, nicht ihr Verhalten als veränderungsbedürftig zu thematisieren (in Richtung "Anpassung" und "gut durchkommen"), sondern ihre Widerständigkeit sogar zu unterstützen, in dem ihnen Hilfestellung gegeben wird zu verstehen, warum ihre Widerständigkeit für sie so viel Sinn macht dass nicht sie falsch damit liegen, sondern dass sie über diese Erfahrung lernen, die Prämissen, unter denen sie leben müssen, in Frage zu stellen. Das Lernen "als" Widerstand kann sich dann entwickeln zu einem Lernen "von" Widerstand (Holzkamp 1987: 172, 190). Holzkamp diskutiert Ansätze dazu im Konzept des partizipativen Lernens (Holzkamp 1991: 209), in dem statt detaillierter Handlungsvorschriften Gelegenheiten zum Handeln gegeben werden. Die Schule ist als konkreter, kontextgebundener Bestandteil der Lebenspraxis der SchülerInnen zu gestalten, die Lerngegenstände wie Musikmachen oder mathematisch denken zu lernen werden nicht als zu lernender Gegenstand vorgesetzt, sondern als Gelegenheit zu eigener teilnehmender Praxis bereit gestellt (ebd.: 210-211). Antonio Gramsci entwickelt Gedanken einer "Einheitsschule", in welcher dem "Kind unter der Kontrolle des Lehrers gleichzeitig den Kontakt mit der menschlichen Geschichte und mit der Geschichte der >Dinge< vermittelt" wird (Gamsci 2004: 167). Als Krönung der aktiven Schule nennt er die kreative Schule, in der "das Lernen insbesondere durch eine spontane und selbständige Anstrengung des Lernenden erfolgt, bei der der Lehrer nur eine Funktion freundschaftlicher Anleitung ausübt" ebd.: 178). Kreation meint: "von sich aus, ohne Ratschläge und fremde Hilfe die Wahrheit entdecken" (ebd.). Gramsci betont jedoch, dass es notwendig ist, eine Einheit von Schule und Leben zu entwickeln, denn "das Bewusstsein des Kindes ist [...] die Widerspiegelung des Ausschnitts der Zivilgesellschaft, an dem das Kind teilhat" und die vorherrschenden zivilen und kulturellen Verhältnisse weichen ab und stehen im Widerspruch zu dem, was in den Lehrplänen vertreten wird (ebd.: 182). Frigga Haug ergänzt die Überlegungen von Holzkamp dadurch, dass sie als Lernwiderstand auch bisherige Lerninhalte, die sich verfestigen können, und liebgewonnene Gewohnheiten ausmacht. Auch der Stolz darauf, in seiner Entwicklung beim Lernen schon voran gekommen zu sein, sich bestimmte Kenntnisse erarbeitet zu haben, kann einen durchaus festhalten auf dem erreichten Niveau und dazu führen, Verunsicherungen, die vielleicht noch weiter bringen könnten, eher abzuwehren. Lernen ist immer auch ein Verunsicherungsprozess. Bisherige Gewissheiten werden kritisiert, um aufgehoben (negiert, aufbewahrt, höher gehoben) werden zu können. Diese (Selbst-)Kritik gehört zum Lernen dazu, und sie auszuhalten ist nicht leicht. Hier kann ein gutes Lernkollektiv mit vertrauensvoller und offener Atmosphäre extrem hilfreich sein (siehe hierzu besonders Haug 2003: 159ff.; vgl. auch Zukunftswerkstatt Jena). Manchmal stoßen kollektive Lernbemühungen auch auf grundsätzliche Probleme, die damit zu tun haben, dass die Teilnehmenden nur Teilausschnitte des gesellschaftlichen Lebens teilen, dass ihnen eine gemeinsame Praxis fehlt.
siehe: "Was passiert mit dem "Selbst"? Wolfdietrich Schmied-Kowarzik referiert eine Ansicht, nach der es die Aufgabe des Erziehers ist, "den Heranwachsenden durch das Andere der Welt herauszufordern und zur nächsten Reflexionsstufe zu führen und so einen Auseinandersetzungsprozeß in Bewegung zu setzen und zu halten, der es dem Heranwachsenden ermöglicht, sich selbst zu finden und zu verwirklichen" (Schmied-Kowarzik 1982: 180). Dies betont im Sinne Hegels die Eigenaktivität des sich am Anderen bildenden Geistes. Schmied-Kowarzik ergänzt, dass Sinn und Anspruch der konkret gegebenen Wirklichkeit dem Einzelnen vorausgesetzt sind, so dass die Bildung nicht nur eine Bewegung vom Geist in Richtung Welt ist, sondern eine Vermittlungsbewegung (ebd.: 181). Frigga Haug nähert sich der Frage der Rolle der Lehrenden auch über die eigene Erfahrung. "Meine Lust galt der Möglichkeit, eine Einführung in eine Welt voller Fragen zu geben, in der ich einige Antworten wusste und in der ich aufgefordert wurde, selbst stets neue Räume zu finden, auf Erkundung zu bleiben." (Haug 2003: 42) Indem sie anderen eine Einführung in die Welt gibt, bleibt sie selbst immer auf Erkundung. Lehren wird dabei zur Unterstützung der Befähigung zur kritischen Erkundung von Welt und Gesellschaft (ebd.: 46). Dabei soll eine kritische Lernhaltung ermöglicht werden und es können Wissensbestände sowie Methoden der Aufschlüsselung von Welt vorgeschlagen werden (ebd.: 46). Ein wichtiger Ansatzpunkt gegenüber dem Lernwiderstand der Gewohnheiten ist es, von den Erfahrungen ausgehend, diese vertiefend zu hinterfragen, in Widersprüche zu führen, quasi gezielt Krisen herbeizuführen (ebd.: 59, 65), die dazu motivieren, lernend mehr Handlungsfähigkeit zu entwickeln. Dieses "Erfahrungen in Widersprüche führen" ist natürlich für die Lehrenden selbst riskant, denn manche Menschen könnten starke Abwehr dagegen auf die Lehrenden abladen. Auch dies ist ein starker Hinweis darauf, dass Lernen nur funktioniert, wenn die Lernenden ein eigenes sachlich-inhaltliches Interesse an dem Lernstoff mitbringen und sich deshalb nicht "genötigt" fühlen. Für die Lehrenden ist es erforderlich, sich selbst in Frage zu stellen und reflektiert mit den eigenen Erfahrungen umzugehen. Sie brauchen ein Wissen um die besonderen Fähigkeiten der Abwehr und des Verdrängens (ebd.: 66) und sie müssen mit dafür sorgen, dass ein Umfeld geschaffen wird, in denen die Einzelnen sich verändernd lernen können (ebd. 100). Dieses sollte grundsätzlich gerade nicht dem "Modell Schule" nachgestaltet werden. Verschiedene Fragestellungen Lernen und Arbeit Der Subjektstandpunkt in der Kritischen Psychologie beruht auf der Vorstellung von der "spezifischen Möglichkeitsbeziehung", d.h. der Existenz einer "zweiten Möglichkeit" für jedes Individuums innerhalb des gesellschaftlich vermittelten Lebens. Das Individuum steht zwar unter Bedingungen, aber erzeugt werden diese Bedingungen im gesellschaftliches Leben. Auf diese Weise ist der Subjektstandpunkt an die gesellschaftliche Arbeit gebunden. Frigga Haug fragt bezogen auf die Lerntheorie noch genauer nach:"Müsste eine Lerntheorie nicht vom arbeitenden Subjekt ausgehen, noch bloß vom Subjekt, welches ja für sich genommen eine idealistische Erfindung wäre?" (Haug 2003: 283). Sie benennt Erfahrungen aus dem Projekt "Automation und Qualifikation". Demnach erfordern Hochtechnologie und mikroelektronische Prozesssteuerung das Einnehmen eines "gesamtgesellschaftlichen Standpunkts" (ebd.: 270). Dabei betont sie, dass ein neuer Widerspruch entsteht, nämlich jener zwischen der "Dimension der Entwicklung der Handlungsfähigkeit bei den Arbeitenden und [der] Dimension ihrer Integration in das System privatwirtschaftlicher Produktion" (ebd.: 272). In einer neueren Arbeit, die die aktuellen Entwicklungen in der Entwicklung der Produktivkräfte und der Organisationsformen der Arbeit untersucht, wird vom "Widerspruch zwischen Selbstentfaltungsbedürfnissen und dem Zwang zur Verwertung unter dem Diktat der Profiterwirtschaftung" (Schlemm, Meretz 2000) gesprochen. Die Brisanz dieser Erkenntnis ist noch ungenügend ausgewertet. In der Arbeitswelt selbst macht sich neben allen sozialpolitischen Verwerfungen, die das Klassenkampfdenken wieder aufleben lassen folgende Problematik bemerkbar: Die Widersprüche der kapitalistischen Konkurrenz gelangen an den Arbeitsplatz und damit in die Person jeder/s Einzelnen. Schon im Arbeitsablauf hängen die Arbeitenden voneinander immer unmittelbarer ab. Unter den gegebenen Bedingungen liegt eine Personifizierung der gegebenen Grundproblematik immer sehr nahe und setzt sich im allgemeinen auch ziemlich widerstandslos durch. Das zunehmende Mobbing ist nur eine überdeutliche Erscheinungsform davon. Das Leiden an diesen Erscheinungen erfordert es bzw. gibt die Möglichkeit, kritisch-psychologische Erkenntnisse zum Begreifen und Durchschauen der Zusammenhänge bereit zu stellen, um aus dem Leiden und den damit verbundenen Verdrängungen heraus zu kommen und Kraft zu gewinnen, die Prämissen und gesellschaftlichen Bedingungen grundsätzlich in Frage zu stellen. Lernmotivationen Als Hintergrund der Lernmotivation bei Tieren hatten wir den Bedarf nach Umwelterkundung und den Bedarf nach sozialer Absicherung und Orientierung erkannt. Für Menschen verändert sich die Bedürfnislage qualitativ und bezieht sich auf die Erhaltung und Erweiterung der Handlungsfähigkeit, d.h. die "Verfügung des Individuums über seine eigenen Lebensbedingungen [...] als Verfügung über den gesellschaftlichen Prozeß" (Holzkamp 1985, S. 241). Die Motivation für das menschliche Lernen ergibt sich für Holzkamp aus einer jeweiligen "Distanz zwischen den im Lerngegenstand beschlossenen und den "schon" vom Individuum realisierbaren Handlungsmöglichkeiten" (Holzkamp 1987: 175). Nach Frigga Haug gehört das Lernen und die Lust daran zur menschlichen Grundausstattung (Haug 2004). Sie meint das aber nicht in dem Sinn, dass sich die Lernmotivation auf eine natürliche Triebstruktur zurückführen ließe, sondern sie ist immer auf das gesellschaftliche Sein der Menschen zu beziehen. Lernmotivationen ergeben sich nach Frigga Haug vor allem aus den Widersprüchen des Lebens selbst und Lernen selbst keine komplikationslose Strategie, wie das Holzkampsche Lernkonzept in der Herausnahme der Lernschleife aus der umfassenden Handlung anzunehmen scheint. Da jedoch häufig die Neigung vorliegt, Widersprüche zu glätten, innere Widersprüche zu verdrängen oder nach einer Seite hin aufzulösen, kommt es darauf an, diese Widersprüche deutlich zu machen und dies auch im weiteren Verlauf durchzuhalten. Wenn ich mich nun wiederum aus meiner eigenen Erfahrung frage, was meine Lernprozesse wesentlich motiviert, so lassen mich beide Vorschläge, der von Holzkamp (Lernen, um angestrebte Handlung realisieren zu können) und der von Haug (Lernen durch Widersprüche) doch etwas hilflos zurück. Vieles von dem, was ich mir z.B. im Bereich der Wissenschaftstheorie aneigne, brauche ich für keinerlei Handlungen. Auf der Grundlage von bereits vollzogenen Teillernschritten seit meiner ersten Lektüre solcher Themen mit vielleicht 15 Jahren haben mich auch nicht primär Widersprüche veranlasst, im Lernprozess weiter voran zu schreiten. Obwohl ich gelernt habe, dass biologische Bedarfsgrundlagen nicht einfach auf Menschen übertragbar sind, sondern durch die gesellschaftliche Existenz der Menschen qualitativ verändert werden, scheint bei mir eher eine direktere Nachfolge zum Neugier- und Explorationsverhalten und Bedarf nach sozialer Absicherung und Orientierung vorzuliegen. Ich wollte verstehen, "was die Welt im Innersten zusammen hält" wie die Elementarteilchen und der Kosmos zusammenhängen und später auch, wie die Gesellschaft funktioniert. Aber ich wollte es nicht direkt im Zusammenhang mit konkreten Handlungserfordernissen und ich war nicht durch Widersprüche zum Lernen motiviert. Grundlage für meine sich bis hin zur Wissenschaft erstreckenden Lern- und Forschungsbemühungen waren gerade nicht eine widersprüchliche Lebenspraxis oder ohne Lernen unüberwindliche Handlungsanforderungen, sondern ein besonders gut abgesichertes Lebensumfeld (in der DDR) und eine Lebensweise, die für ein "normales" Fortkommen langweiligerweise nach der Lehrzeit eher kein ständiges Lernen mehr zu erfordern schien. Kritik im Lernprozess Frigga Haug betont, dass es zwar durchaus noch Unterschiede im Fach- und Methodenwissen zwischen Lernenden und Lehrenden gibt, dass aber alle Lerninhalte gleichzeitig kritisch angeeignet werden müssen. Auf der Grundlage, dass es sowieso keine direkte Weitergabe von Wissen durch Lehrende an Lernende gibt (dies war lehrlernkurzschlüssig von anderen angenommen worden), wird das zu Lernende beim Lernen immer auch aktiv verändert (Haug 2003: 258). Lernen ist deshalb gleichermaßen als Forschungs- und Gestaltungsprozess zu betrachten (ebd.). Angesichts der bereits diskutierten nahegelegten Lernwiderstände wird hier aber zu unterscheiden sein: Einerseits führt expansives Lernverhalten auf Grundlage eines sachintensionalen Interesses sicher zur Fähigkeit, in der Kritik den Lerngegenstand nicht zu vernichten. Um Kritik als sachangemessene Beurteilung (Röttgers 1999: 739) durchführen zu können, muss die Angemessenheit an die Sache gewährleistet sein. Dies nicht für alle Kritikformen selbstverständlich. Auch "entlarvende" Kritik wird häufig geübt, das Anliegen, die Sache eines als Lerngegenstand vorgeschlagenen Themas wird von vornherein abgelehnt. Im günstigsten Fall wird diese Ablehnung auch noch begründet, beispielsweise mit der abgelehnten vermuteten ideologischen Funktion des vorgeschlagenen Gegenstands oder anderen außerhalb der Sache des Gegenstands selbst liegenden Gründen. Diese Art von Kritik wird von Karl Mannheim "Enthüllung" genannt (Mannheim 1925: 315). Ich denke, diese beiden Formen von Kritik sind mindestens zu unterscheiden, weil sie ein unterschiedliches Vorgehen erfordern. Besonders kompliziert wird dies, wenn der Gegenstand des Lernens ein wissenschaftlicher ist. Sache der Wissenschaft ist es, hinter oft nur erscheinenden Phänomenen zum Wesen der zugrunde liegenden Zusammenhänge vorzudringen, denn "alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen [...] (Marx Kap. III: 825). Wissenschaft ist keine Fortführung des Alltagsverstandes, sondern kann ihr scheinbar direkt widersprechen. Die klassische Mechanik geht nicht von ruhenden Körpern aus, die dann "angestoßen" werden wie wir sie im Alltag kennen , sondern sie setzt voraus, dass alle kräftefreien Körper sich solange auf einer geradlinig-gleichförmigen Bahn bewegen, bis sie von Kräften positiv oder negativ beschleunigt werden (Galileisches Trägheitsprinzip wurde als erstes Newtonsches Axiom in die Klassische Mechanik eingebaut). Solch einen kräftefreien Körper gibt es nicht. Obwohl beispielsweise möglichst ebene Schiefe Ebenen zum Experimentieren gebaut werden, "sieht" jeder Mensch alltäglich, dass Körper üblicherweise schnell zum Ruhen kommen, wenn sie nicht zusätzlich angestoßen werden. Der wissenschaftliche Blick auf die Welt widerspricht dem alltäglichen, sonst kann sie ihre Aufgabe (z.B. Ortsbewegungen mess- und berechenbar zu machen) nicht erfüllen. Hier ist Kritik natürlich wenig sachangemessen, wenn sie sich beispielsweise auf die "offen sichtlichen" Alltagserfahrungen beruft, ohne sich auf die Sache selbst einzulassen. Die Sache ergibt erst konkrete Kriterien für Kritik. Kritik ist also nicht per se, als abstrakte Ablehnung sinnvoll. Auch Frigga Haug betont, dass wir es lernen müssen, die verschiedenen Schichten des Alltagsbewusstseins, die teils vorwissenschaftlich, je verschiedene Massenkultur entsprechend, teils wissenschaftlich geformt sind, kohärent zu arbeiten (Haug 2003: 56). Auf dieser Grundlage kann dann auch jeder Gegenstand, jede Sache selbst begründbar kritisiert werden. "Wissenschaftliches Arbeiten ist wesentlich Kritik. Sie setzt Verständnis eines Textes, einer Theorie voraus; die Überprüfung als unterscheidende Beurteilung von Vorstellungen und Vorgestelltem; eigenes Denken, auch als Fähigkeit, Unterschiede zu machen; den Vergleich; Aufheben, was wichtig ist; weitergehen, wo nicht genug gegangen wurde, und Korrektur. Kritik verbindet Erkenntnis mit Praxis, Denken mit Handeln." (Haug 2003: 162) In kollektiven Lernprozessen können einerseits unterschiedliche Kenntnisniveaus angeglichen werden, die Kritik ist durch gegenseitiges Lehren und Lernen quasi "eingebaut", aber immer wieder werden Probleme auftauchen, wenn einerseits Vorwissen nötig ist, um in eine angemessene wissenschaftlich Diskussion einzusteigen (vgl. Haug 2003: 197) und andererseits von Anfang an Kritik gepflegt wird. Literatur Bericht (1977): Bericht über den I. Kongreß Kritische Psychologie in Marburg vom 13.-15.Mai 1977 (Herausgegeben im Auftrag des Bundes demokratischer Wissenschaftler und des Allgemeinen Studentenausschusses Marburg von Klaus Holzkamp und Karl-Heinz Braun) Band II: Diskussion, Pahl-Rugenstein Verlag Köln 1977. Gramsci, Antonio (2004): Erziehung und Bildung. Gramsci-Reader. Herausgegeben im Auftrag des Instituts für kritische Theorie von Andreas Merkens. Hamburg: Argument-Verlag. Haug, Frigga (1999): Vorlesungen zur Einführung in die Erinnerungsarbeit. The Duke Lectures. Hamburg: Argument-Verlag. Haug, Frigga (2001): Erinnerungsarbeit. Hamburg: Argument-Verlag. (Erstausgabe 1990) Haug, Frigga (2003): Lernverhältnisse. Selbstbewegungen und Selbstblockierungen. Hamburg: Argument-Verlag. Haug, Frigga (2004): Seminar "Lernverhältnisse", 24.-27. Juni 2004 Hütten mit Frigga Haug. (Protokoll von A. Schlemm und C. Ehms) Holzkamp, Klaus (1983): "Was kann man von Karl Marx über Erziehung lernen? Oder: Über die Widersprüchlichkeit fortschrittlicher Erziehung in der bürgerlichen Gesellschaft. In: Klaus Holzkamp: Schriften I. Normierung. Ausgrenzung. Widerstand. Hamburg: Argument-Verlag. 1997. S. 136-155. Holzkamp, Klaus (1984): Gesellschaftliche Widersprüche und individuelle Handlungsfähigkeit am Beispiel der Sozialarbeit. In: Klaus Holzkamp: Schriften I. Normierung. Ausgrenzung. Widerstand. Hamburg: Argument-Verlag. 1997. S. 385-403. Holzkamp, Klaus (1985): Grundlegung der Psychologie. Frankfurt/New York: Campus. Holzkamp, Klaus (1987): Lernen und Lernwiderstand. Skizzen zu einer subjektwissenschaftlichen Lerntheorie. In: Klaus Holzkamp: Schriften I. Normierung. Ausgrenzung. Widerstand. Hamburg: Argument-Verlag. 1997. S. 159-196. Holzkamp, Klaus (1988): Die Entwicklung der Kritischen Psychologie zur Subjektwissenschaft. In: Klaus Holzkamp: Schriften I. Normierung. Ausgrenzung. Widerstand. Hamburg: Argument-Verlag. 1997. S. 19-39. Holzkamp, Klaus (1991): Lehren als Lernbehinderung? In: Klaus Holzkamp: Schriften I. Normierung. Ausgrenzung. Widerstand. Hamburg: Argument-Verlag. 1997. S. 196-214. Holzkamp, Klaus (1992): Die Fiktion administrativer Planbarkeit schulischer Lernprozesse. In: Klaus Holzkamp: Schriften I. Normierung. Ausgrenzung. Widerstand. Hamburg: Argument-Verlag. 1997. S. 215-234. Holzkamp, Klaus (1996): Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung. Einführung in das Hauptanliegen des Buches. In: Klaus Holzkamp: Schriften I. Normierung. Ausgrenzung. Widerstand. Hamburg: Argument-Verlag. 1997. S. 255-276. Löwe, Hans (1996): Stichwort "Lernen". In: Philosophie und Naturwissenschaften. Wörterbuch, Bonn: Pahl-Rugenstein (Hrsg.: Herbert Hörz, Heinz Liebscher, Rolf Löther, Ernst Schmutzer, Siegfried Wollgast). S. 510-513. Mannheim, Karl (1925): Das Problem einer Soziologie des Wissens. In: Wolff, Kurt H. (Hrsg.): Wissenssoziologie: Auswahl aus dem Werk Karl Mannheims. Neuwied: Luchterhand 1964. 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Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich (1982): Hegel und die Pädagogik. In: Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich (1993): Bildung, Emanzipation und Sittlichkeit. Philosophische und pädagogische Klärungsversuche. Weinheim: Deutscher Studien Verlag. S. 166-184. Seidel, Rainer; Ullmann, Gisela (1977): Gibt es einen Intelligenzbegriff in der Aneignungstheorie? In Bericht 1977, S. 139-154< Zukunftswerkstatt Jena. In Internet: http://www.zw-jena.de. Fotos: vom Seminar "Lernverhältnisse" in Hütten und dem Seminar zur Kritischen Psychologie in Blankenburg im Juni 2004 |
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