Sich selbst entwerfen – die "Konstruktion" des Ich In einem Seminar mit Frigga Haug wurde die "Konstruktion des Ich" thematisiert. Während einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer einverständig nickten, hatten andere Probleme, Zugang zu dieser Themenstellung zu finden, weil sie auch nicht direkt Thema der Veranstaltung war. 1. Konstruktivismus Aus der Totalität der ganzen Welt ("1. Wirklichkeit") können wir als endliche Wesen nur einen Teil erfahren. Diese erfahrene Umwelt ist eine "2. Wirklichkeit" (v. Glasersfeld 1991/1999, S. 56). Von dieser empfangen wir Signale, die erst einmal neutral sind ("3. Wirklichkeit"). Wir selbst geben ihnen eine Bedeutung und erzeugen damit eine "4. Wirklichkeit" (Watzlawick 1992/1999, S. 38,. vgl. Watzlawick 1976/1999, S. 136). Das Konzept des Konstruktivismus wehrt sich vor allem gegen die vereinfachten Vorstellungen, wir würden die Welt so sehen und wahrnehmen, wie sie ist, quasi als "Abbild" und sie betont demgegenüber die eigene Aktivität des wahrnehmenden Organismus bzw. Subjekts. Aufgrund dieser eigenen Aktivität bekommt der von uns wahrgenommene Inhalt eine Eigenlogik, die auf unserer eigenen Aktivität beruht. Die bisher von uns aufgenommenen und erzeugten Bedeutungen beeinflussen die Bedeutung neuer Informationen, und diese beeinflussen die eigenen Aktivitäten und damit das, was wir überhaupt erfahren können. Auf diese Wiese "konstruieren" wir unsere eigene Welt. Unsere Aktivität bestimmt die Welt, die wir dann erfahren. Diese konstruktivistische Erkenntnistheorie beruht auf der biologischen Theorie der Autopoiesis (Maturana 1982, zusammenfassend siehe auch Schlemm 1997/1998), in der für Organismen folgende Merkmale betont werden:
Konstruktivisten schlagen nun eine Form der Psychotherapie vor, in der eine Wirklichkeitskonstruktion, die nicht länger "paßt", durch eine andere zu ersetzt wird, die besser "paßt" (Watzlawick 1992/1999, S. 41). Der Aussage des Konstruktivismus, dass die Außenwelt nicht ohne innere Aktivität auf den Organismus/das Individuum einwirkt, ist sicher zuzustimmen. Problematisch sind dagegen jene Theoriefragmente, die zur Erklärung und Untermauerung dieser Aussage herangezogen werden. Die Neurobiologie kann Teilmomente der Wahrnehmung und Weltaneignung von Organismen/Individuen erkennen, reicht aber dazu allein von ihrer Begriffsbildung her in keiner Weise aus. Ein wichtiger Ansatzpunkt bezüglich des Begriffs der Bedeutung wäre z.B. das Ausgehen vom Bedeutungsbegriff nach Klaus Holzkamp, der Bedeutung bestimmt als Verhältnis zwischen psychischen Charakteristika und den objektiven Beschaffenheiten der Umwelt (Holzkamp 1985: 207). 2. Spezifische Möglichkeitsbeziehung von Menschen gegenüber der Welt Bei Tieren bestimmen die Bedeutungen, also die Verhältnisse zwischen dem Bedarf im Organismus und den äußeren Gegebenheiten die Aktivitäten der Organismen in unmittelbarer Weise; unvermittelt zumindest durch Nachdenken, Überlegen oder rationale Entscheidungen. Das Überleben der Population ist unmittelbar von dem adäquaten Verhalten der einzelnen tierischen Organismen abhängig, keins der Organismen kann seinen Beitrag zur Überlebensfähigkeit aussetzen oder sich seine Funktion dabei aussuchen. In der menschlichen Gesellschaft ist das anders. Die Gesellschaft wird zwar durch die Tätigkeiten der einzelnen Individuen produziert, aber nicht mehr in der unmittelbaren Weise wie in der Tierpopulation. Zwar sind bestimmte Tätigkeiten durchschnittlich gesehen für den Erhalt des Ganzen notwendig – aber daraus ergibt sich nicht direkt eine Handlungsanweisung für das einzelne Individuum. Das einzelne Individuum hat die Möglichkeit zu wählen ob und wie es sich an der Produktion des Ganzen beteiligt, die Unmittelbarkeit zwischen Produktion und Verfügung über die Produkte ist durchbrochen. Der Einzelne kann auch dann prinzipiell in seiner Existenz erhalten werden, wenn er sich nicht an der Erhaltung des "Systems" beteiligt (Holzkamp 1985: 235). Das Individuum hat eine spezifische Möglichkeitsbeziehung gegenüber der Welt. aus einem anderen Text zum selben Thema: Was passiert mit dem "Selbst"? Die verbreiteten Formen von "Erziehung", bei der Affekte bekämpft werden, bevor sich das Selbst des Kindes entwickeln kann (Miller 1983: 26), bei der "Mord an der Seele [...] als ein Bestandteil der Erziehung völlig legalisiert" (ebd.: 259) ist, behindern in starkem Maße die in unserer Diskussion der spezifischen Qualität des Menschseins vorausgesetzte Möglichkeit des "bewussten-Verhaltens-zu" den gegebenen Bedingungen. Dieses setzte eine reflektierende Subjektivität voraus, die aber – wie wir eben sahen – in der "Erziehung" unter entfremdeten Verhältnissen zwar nie ganz zerstörbar, aber doch in erheblichen Maße beeinträchtigt wird. "Erziehung" ist Formierung von Objekten, massive Behinderung der Ausbildung von Subjektivität. "Einen eigenen Willen und eine eigene Meinung zu haben, galt eben als Eigensinn und war verpönt" (ebd.: 61). Peter Handke macht auf ein durchaus typisches Verständnis des Wortes "Individuum" aufmerksam: ">>Individuum<< war auch nur bekannt als Schimpfwort." (Handke, zit. in Miller 1983: 102) Mit dieser "Altlast" müssen wir rechnen, wenn wir intersubjektive Beziehungen aufbauen möchten und unser politisches Konzept auf die Aktivität von Subjekten mit einem entwickelten Selbst orientieren. Alice Miller arbeitete vorwiegend mit der Psychoanalyse, um wenigstens den erwachsenen Menschen im Nachhinein wieder einen Zugriff auf ihre ins "Unterbewusstsein" verdrängten Anteile zu ermöglichen. Das "Selbst" wird auch von Frigga Haug thematisiert (Haug 1999, Haug 2001), wobei sie von der Konstruiertheit des "Ich" ausgeht: "Das soll heißen, die Menschen bauen die Gegebenheiten ihres Lebens so um, daß sie selber einigermaßen widerspruchsfrei darin existieren können, handlungsfähig sind. Da eine solch widerspruchsfreie Existenz praktisch nicht möglich ist, schon gar nicht in unseren Verhältnissen und darin noch weniger für Frauen, nehmen wir an, daß die Selbstinterpretationen (Vorstellungen und Erinnerungen) in hohem Maße Widerspruchsfreiheit konstruieren: dies eben durch Vergessen, Auslassen, Nicht-Wahrnehmen usw. Eben diese Konstruktionen, in denen wir gewissermaßen rund um die Ecke kommen, sind hinderlich für die tatsächliche Realitätsbewältigung" (Haug 1982: 54-55). Als eine Methode, sich des das "Halbgewussten" über sein eigenes widersprüchliches Verhältnis zur Welt wieder bewusst zu werden, schlägt sie z.B. die kollektive Diskursanalyse an bestimmten selbst geschriebenen Texten vor. Wir sollten grundsätzlich lernen, "historisch zu leben" das heißt, uns selber nicht als Natur und unhinterfragbare Gegebenheit zu akzeptieren, sondern als geworden und also veränderbar (Haug 1982: 64). Dies betont wiederum den Pol der möglichen Eigenaktivität bei aller Bedingtheit: "Mein Ausgangspunkt war also, daß eine Auffassung, die die einzelnen Menschen als Opfer der Verhältnisse denkt, und damit die Strukturen, in die wir uns hineinarbeiten, als allgegenwärtig erklärt, nicht begreifen kann, wie Menschen überhaupt etwas ändern können in dieser steinernen Welt." (Haug 1983: 33) Diese Arbeit am eigenen Selbst ist durchaus kein Selbstzweck. Sie ist eine der Voraussetzungen für Hoffnungen in einen gesamtgesellschaftlichen Umschwung hin zu überlebensfähigen Wirtschafts- und Lebensweisen.. Selbstveränderung fällt mit dem Ändern der Umstände zusammen (Marx: TüF: 6), heute schon, weil die Veränderung von Individualität auch immer Veränderung von Gesellschaftlichkeit ist – aber auch als Potential für die Zukunft. Diese Arbeit kann deshalb auch nicht allein im "eigenen Kämmerlein" geschehen. Das "Selbst" ist Moment gesellschaftlicher Beziehungen und es hat neben der gesamtgesellschaftlichen Dimension (die überhaupt die Voraussetzung für die Möglichkeit des "bewussten-Verhaltens-zu" den Bedingungen ist) auch jeweils soziale Umfeldkomponenten. Besonders vor der Aufhebung der gesellschaftlichen Entfremdung im großen Maßstab ist es wesentlich, im sozialen Umfeld "Nischen" zu haben, in denen die unentfremdeten Anteile der "Selbste" überleben und möglicherweise sogar wachsen können. (Aus "Erziehung": http://www.thur.de/philo/kp/erziehung.htm; Literatur siehe dort) Literatur: Adorno, Theodor W., (1966/1990): Negative Dialektik. Frankfurt/Main 1990. Flego Gvozden (1995): Das Verhältnis von Denken und Wirklichkeit. In Memoriam Gaja Petrović. In: Eidam, Heinz; Schmied-Kowarzik Wolfdietrich (Hrsg.): Kritische Philosophie gesellschaftlicher Praxis - Auseinandersetzungen mit der Marxschen Theorie nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus, Kassel 1995. Glasersfeld, Ernst v. (1991/1999): Radikaler Konstruktivismus oder Die Konstruktion des Wissens. In: Watzlawik, Paul; Nardone, Giorgio (Hg.): Kurzzeittherapie und Wirklichkeit. München, Zürich: Piper 1999. S. 43-58. Haug, Frigga (1980): Frauen – Opfer oder Täter? Über das Verhalten von Frauen. In: Frigga Haug (2001): Erinnerungsarbeit. Hamburg: Argument-Verlag. S. 9-19. Haug, Frigga (1982): Erinnerungsarbeit und die Langeweile der Ökonomie. In: Frigga Haug (2001): Erinnerungsarbeit. Hamburg: Argument-Verlag. S. 42-83. Haug, Frigga (1983): Streitfragen. In: Frigga Haug (2001): Erinnerungsarbeit. Hamburg: Argument-Verlag. S. 32-41. Haug, Frigga (1999): Vorlesungen zur Einführung in die Erinnerungsarbeit. The Duke Lectures. Hamburg: Argument-Verlag. Holzkamp, Klaus (1985): Grundlegung der Psychologie. Frankfurt/Main, New York. Marx, Karl (Brum): Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte. In: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke Bd. 8. Berlin: Dietz-Verlag. S. 111-207. Maturana, H.(1982): Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Braunschweig, Wiesbaden McDowell, John (2001): Geist und Welt. (1996) Frankfurt am Main: Suhrkamp. Sartre, Jean-Paul (1964): Marxismus und Existentialismus. Versuch einer Methodik. Reinbek. Schlemm, Annette (1997/1998): Autopoesis. Internet http://www.thur.de/philo/asap.htm. Schlemm, Annette (2001): Die Natur des Menschen. Internet: http://www.thur.de/philo/kp/mensch.htm. Watzlawik, Paul; Nardone, Giorgio (Hg.): Kurzzeittherapie und Wirklichkeit. München, Zürich: Piper 1999. Watzlawick, Paul (1976/1999): Die psychotherapeutische Technik des "Umdeutens". In: Watzlawik, Paul; Nardone, Giorgio (Hg.): Kurzzeittherapie und Wirklichkeit. München, Zürich: Piper 1999. S. 135-145. Watzlawick, Paul (1992/1999): Die Konstruktion klinischer "Wirklichkeiten". In: Watzlawik, Paul; Nardone, Giorgio (Hg.): Kurzzeittherapie und Wirklichkeit. München, Zürich: Piper 1999. S. 25-41. |
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