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Schellings Dialektik I

"Ohne dialektische Kunst ist keine wissenschaftliche Philosophie!" (Schelling)

Inhalt:

Nachdem ich mich vor über zehn Jahren mehrere Monate lang mit Schelling beschäftigt hatte (Schlemm 1996a), fand ich die für mich wichtigere philosophische Basis in Hegel und beschäftigte mich stärker mit dessen Philosophie. Jetzt beteilige ich mich gerade an der Arbeit an einem Bloch-Wörterbuch, und muss dafür auch die vorblochsche Geschichte von "Dialektik" zusammen fassen. Es ist, wie für alle philosophischen Vorläufer von Bloch, nicht gerade leicht, in aller Kürze das Wesentliche aus ganzen Lebenswerken zusammen zu tragen - bei Schelling hielt ich mich sogar noch etwas länger auf, als die Aufgabe erfordert hätte. Deshalb möchte ich hier etwas mehr aufschreiben von dem, was im Buchbetrag nicht alles Platz finden wird.

Schellings Früh- und Spätphilosophie in unterschiedlicher Bewertung

Bei der Darstellung und Bewertung der philosophischen Konzeptionen von Schelling muss erstens berücksichtigt werden, dass er im Laufe der Zeit viele inhaltliche und methodische Veränderungen ausarbeitete, so dass man sich schwerlich auf "den" Schelling beziehen kann, sondern alle Aussagen in den Kontext des jeweiligen Konzepts stellen muss. Wichtige Ausarbeitungen von ihm liegen zeitlich einerseits vor denen Hegels, andererseits war ihm auch ein Wirken über dessen Tod hinaus vergönnt.

Für die Einschätzung Schellings in den sozialistischen Ländern war lange Zeit das Verdikt von Friedrich Engels, für den Schelling zu einem philosophischen Hauptfeind wurde, prägend. Engels warf Schelling vor, sich in "mythologische und theosophische Phantastereien" (Engels 1842: 179) zu vergraben und zu versuchen, "Autoritätsglauben, Gefühlsmystik, gnostische Phantasterei in die freie Wissenschaft des Denkens hineinzuschmuggeln" (ebd.: 181). Abgesehen von dem, was Schelling selbst beabsichtigte, war seine "positive Philosophie" durchaus geeignet, in politisch reaktionärer Weise die Ansprüche eines vernünftigen Denkens, die als Kritik des Existierenden gelten können, im kritiklosen Hinnehmen des Faktischen, des Gegebenen, des "Positiven" zurückzuweisen.

Auch in der DDR begann die Rezeption Schellings mit der Einordnung unter die Vorläufer des Irrationalismus durch Lukács (1954). Später wurde dann wenigstens seine Frühphilosophie mit ihren Beiträgen zur Entwicklung des dialektischen Denkens geschätzt (vgl. Lange, Biedermann 1977, sehr ausgewogen auch gegenüber der Spätphilosophie siehe auch Dietzsch 1978). Ich selbst hatte in den 90ern weder Engels noch Lukács gelesen, sondern begegnete im Rahmen der Ernst-Bloch-Assoziation immer wieder der herausfordernden These, dass Schelling gegenüber Hegel zu bevorzugen sei, was sich auch im Werk ihrer führenden Mitglieder zeigt (z.B. Schmied-Kowarzik 1985; Zimmermann 1998). Ich fand auch viele wichtige Gedanken in den frühen Werken von Schelling (vgl. Schlemm 1996a), sah aber in seinen Schriften ab 1804 einen Wandel, der aus meiner Sicht eine Uminterpretation des Freiheitsgedankens in Richtung Fatalismus darstellt, so dass sich mein Interesse an der weiteren Ausarbeitung dieser Gedanken in Grenzen hielt. Aber ich erfuhr, dass die Haltung, den frühen Schelling zu schätzen und den Rest einfach wegzulassen, sich nicht durchhalten lässt. So ist die Philosophie von Ernst Bloch ohne Einflüsse des späten Schelling nicht zu verstehen (vgl. Wüstehube 1989, Mayer 2009, Bloch ZW: 311 ff.). Hier will ich keine umfassende Schelling-Darstellung und -bewertung liefern, sondern nur eine Zusammenfassung seines Bezugs auf Dialektik und seiner Beiträge dazu.

Dialektik in unterschiedlichen Schellingschen Konzeptionen

Was verstand Schelling unter Dialektik? In seiner Freiheitsschrift (1809) bezeichnete er den Verstand als "dialektische[s] Prinzip" und verstand darunter einen "sondernde[n], aber eben darum organisch ordnende[n] und gestaltende[n], Verstand" (SW VII: 415), welcher sich nach einem Urbild richtet. Dialektik verfolgt die "Absicht, alles als eins darzustellen und in Formen, die ursprünglich dem Reflex angehören, dennoch das Urwissen auszudrücken" (SW V: 267). Bereits früher stellte er fest: "Ohne dialektische Kunst ist keine wissenschaftliche Philosophie!" (ebd.) Aber sie ist "noch keineswegs wirkliche Wissenschaft" (SW VIII: 201 f.), sondern lediglich die Vorbereitung zur Wissenschaft (SW IX: 214).

Georg Lukácz analysiert den Aufschwung der dialektischen Sichtweise in der klassischen deutschen Philosophie als "Wendung zur Dialektik in der Form der schroffen Abwendung von den bloßen Verstandeskategorien der Aufklärung" (Lukács 1954: 112). Sie reagierte damit auf die neuen Erkenntnisse über die physikalische Wechselbeziehungen, chemische Prozessualität und biologische Organismenganzheit, welche eine "radikal neue Begriffsbildung" erforderte, "die imstande sein soll, gerade die Widersprüchlichkeit als Grundlage der Naturphänomene auszusprechen" (ebd.: 113). Schelling gehörte zu jenen, die hinausgingen "über jene Fixierung und Erstarrung dieser erscheinenden Widersprüchlichkeit durch Kategorien des bloßen Verstands" (ebd.: 115). (zu Schellings Naturverständnis siehe Schlemm 1996b)


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