Die Raumvorstellung
Die Raumvorstellung ist für jede Person fundamental, denn seit sie sich als Baby von ihrer Umgebung zu unterscheiden gelernt hat, gibt ihr der jeweilige Umgebungsraum ihre Bewegungsmöglichkeiten vor. Spätestens in der Schule lernt sie dann, dass nicht alle Raumwahrnehmungen den "wirklichen Raum" wiedergeben. Sie lernt, ein Maßband zu verwenden und stellt erstaunt fest, dass 10 m auf einer horizontalen Strecke in die Ebene hinaus viel kürzer erscheinen als dieselbe mit dem Maßband gemessene Strecke in die Tiefe. Bei einem Adler ist es übrigens umgekehrt - seine Wahrnehmung verkürzt die Höhenmeter im Vergleich zur gleich langen horizontalen Strecke (nur verwirrt ihn das weniger, denn er benutzt kein Maßband). Das menschliche Wesen jedoch wächst in eine Kultur hinein, in der es eine bestimmte Raumvorstellung quasi mit der Muttermilch aufnimmt. Nicht nur die angeborene gehirnphysiologische Wahrnehmungsverarbeitung im Gehirn bestimmt seinen Raumeindruck, sondern vor allem die kulturell konstituierte und vermittelte Vorstellung vom Raum.
Nur wer wenigstens ansatzweise die frühere Selbstverständlichkeit dieser Vorstellung nachfühlt, kann die Leistung des Nicolaus von Cues würdigen, der dem gesamten Raum erstmalig Einheitlichkeit und Gleichartigkeit, d.h. Homogenität zusprach. Als sich dann Wissenschaftler daran machten, die Bewegung von Planeten zu erklären, veränderte sich die Raumvorstellung jeweils mit den Erklärungsansätzen. Magnetische Kraftwirkungen bei Kepler oder mechanische Wirbel bei Descartes füllten dabei den Raum. Dabei blieb es in der Debatte auch oft unbestimmt, in welcher Weise der Raum überhaupt real sein könnte. Eine wichtige Ausgangsfrage war die nach dem Widerspruch der Bewegung: Die Eleaten zogen aus den Zenonschen Paradoxa der Bewegung den Schluss, dass es Bewegung gar nicht wirklich gibt. Bewegungen im Raum sind nur Schein, denn wenn es sie gäbe, würde das Denken in Widersprüche geführt. Für Heraklit, der im Gegensatz dazu in der Realität nur Bewegtheit sah, war Bewegung zwar wahrhaft real, aber dafür nicht erkennbar. Im Atomismus wurde ein anderer Ausweg aus der Widersprüchlichkeit der Bewegung gefunden: Wenn neben den sich bewegenden Atomen noch ein leerer Raum als real existierend angenommen wird, wird die Bewegung widerspruchsfrei denkbar. René Descartes Für René Descartes waren Raum, bzw. Ausdehnung und Körper, bzw. Materie identisch (Descartes Prinz. II: 4). Aufgrund dieser Identifizierung von Raum und Materie gibt es keinen "leeren" Raum außerhalb des Körpers. Das verwirrt vielleicht diejenigen, die meinen, unsere gewohnte Vorstellung von Bahnbewegungen im als ansonsten leer anzusehenden "cartesischen Koordinatensystem" entspräche tatsächlich der Raumvorstellung des Descartes.
Die Frage nach der realen Existenz eines leeren Raumes neben den materiellen Körpern stellt sich auch beim Konflikt zwischen Newton und Leibnitz, bei dem Newton als Vertreter eines absoluten und Leibniz als Vertreter des relationalen Raumbegriffs betrachtet werden. Isaac Newton Für Newton ist es wichtig, zwischen nur scheinbaren Bewegungen und wahren Bewegungen unterscheiden zu können. Als wahre Bewegungen sah er nur jene an, die eine Bewegung gegenüber dem absoluten Raum zeigen: Diese Sichtweise fragt nicht mehr nur nach einer angemessenen Beschreibung der Bewegungen, wie sie beispielsweise bei der Auswahl verschiedener mathematischer Koordinatensysteme eine Rolle spielt. Für die Darstellung rotierender Bewegungen mögen Kugelkoordinaten sinnvoller sein als geradlinige. Befürworter einer relativistischen Sichtweise behaupten sogar, die geozentrische und die heliozentrische Darstellung des Planetensystems sei eigentlich gleichwertig[2] - es komme nur auf die Bequemlichkeit bei der Vereinfachung von Berechnungen an. Hier ist aber zu unterscheiden zwischen den mathematischen Koordinatensystemen, bei denen diese Neutralität gegenüber der Realität tatsächlich gegeben ist, und den physikalisch bedeutsamen Bezugssystemen. Es geht um die Unterscheidung von sinnlich wahrgenommenen (und mathematisch formal beliebig darstellbaren) Bewegungen und den Bewegungen, die "wahr" in dem Sinne sind, dass sie mit wirklichen Wirkfähigkeiten, d.h. Kräften in der Natur verbunden sind. Die Physik ist damit nicht mehr nur eine (geometrisch- kinematisch) beschreibende Wissenschaft, sondern eine, die sich (dynamisch) auf Kräfte als Bewegungsursachen bezieht. Das physikalische Bezugssystem ("Standard") ist dann das (kräftefreie) Vergleichssystem, auf das kraftverursachte, d.h. die "wahren" Bewegungen bezogen werden. Weil das kräftefreie Bezugssystem nicht wirklich existiert (wo wären alle Kraftwirkungen ausgeschaltet?), ist die Vorstellung eines solchen natürlich eine Abstraktion, aber sie ist eine "objektive Abstraktion" (Wahsner 1978: 42), weil sie sich auf objektive Wirkungsfähigkeiten, d.h. Kräfte bezieht. Bereits Newton erkannte, dass die Physik nur dann angemessen physikalische Phänomene erklären kann, wenn sie einerseits dynamische Kraftwirkungen untersucht (die er als "aktive Prinzipien" bezeichnete), dass diese aber andererseits auf passive Prinzipien wie die Trägheit bezogen sein müssen (Newton Opt.: 165). Diese Unterscheidung von aktiven (Kraft-) und passiven (den "Standard" bestimmenden) Prinzipien zeigt sich speziell in der Unterscheidung von physikalischen Wechselwirkungen (Dynamik) und der Raum-Zeit-Struktur, die von Borzeszkowski und Wahsner (1989) "Dualismus" nennen. Dabei ist jeweils das, was das Bezugssystem ausmacht (passives Prinzip) nicht selbst Gegenstand der dynamischen Theorie, sondern ihr vorausgesetzt. Die in der Erkenntnis gesuchte Übereinstimmung von Theorie und Wirklichkeit ist dann jeweils nicht nur für die Theorie allein, sondern immer im Zusammenhang mit ihren Voraussetzungen zu überprüfen. Spätestens auf dieser Stufe der Untersuchungen haben wir uns auch von der rein individuellen Wahrnehmung entfernt. Dass wir das Trägheitsprinzip als "Bewegungsstandard" verwenden, kann zwar auch individuell im Gedankenexperiment nachvollzogen werden (der Stein, der vom Mast des fahrenden Schiffes fällt; die Fliege im Auto), aber die daraus entstehenden Grundbegriffe der Physik (z.B. Inertialsystem, Bestimmung von Größen wie Geschwindigkeit und Beschleunigung) sind gesellschaftlich erzeugte Erkenntnismittel, die darauf verweisen, dass die physikalische Erfahrung nicht primär individuelle Sinnlichkeit betrifft, sondern Moment gesellschaftlicher Praxis ist. Schauen wir uns nun das Bezugssystem als Voraussetzung für die Newtonsche Mechanik genauer an. Der Ausgangspunkt ist das Trägheitsgesetz: Körper verharren ohne die Einwirkung äußerer Kräfte in ihrem Bewegungszustand (der Ruhe oder der geradlinig gleichförmigen Bewegung). Der dementsprechende Raum ist der dreidimensionale euklidische Raum:
Ernst Mach setzte dieser Überlegung von Newton den Gedanken entgegen, dass die beschriebene Wölbung nicht durch die Trägheit gegenüber dem absoluten Raum hervorgerufen sei, sondern durch ferne Himmelskörper verursacht sei (Mach 1883/1921: 227). Allerdings setzt eine solche Verursachung eine neue Art von Fernwirkungskräften voraus, was eine äußert problematische und nicht bestätigte Annahme ist. Gottfried Wilhelm Leibniz Neben dem bekannten Streit um die Priorität bei der Ausarbeitung neuer mathematischer Methoden zwischen Newton und Leibnitz entstanden auch scharfe Auseinandersetzungen um das Weltbild. Leibniz verteidigte weiterhin die Wirbeltheorie nach Descartes, die von Huygens weiter entwickelt worden war. Allerdings gelang es Leibniz und seinen Mitstreitern nicht, alle drei Keplerschen Gesetze in ihre Physik einbauen zu können. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Leibnitzens Argumente nicht primär physikalisch, sondern philosophisch waren. Nicht, weil ein Weltbild mit leerem, absolutem Raum nicht der Wirklichkeit entspräche, oder falsche Erkenntnis produzieren würde, lehnte er es ab - sondern weil das Übermaß an Leerem gegenüber der Materie den in der Materie wirkenden Gott zu gering schätzen würde. Ganz explizit schließt Leibniz den Gedanken aus, dass der absolute Raum für die Messung, bzw. Feststellbarkeit von Bewegung notwendig sei. Er denkt nicht über die Physik als Mittel zur Mess- und Denkbarkeit von physikalischen Bewegungen nach, sondern über den Standpunkt Gottes, für den es lächerlich wäre anzunehmen, dass "Gott, der Ursprung aller Dinge, ein Sensorium nötig hätte" (zit. in Simoniy 2001: 271). Hier vertritt Leibniz eine philosophische Sichtweise. Eine andere seiner Vorlieben ist die Bevorzugung der mathematischen Sichtweise, die nicht mehr nach einem erfahrungsmäßigen Bezug zur Wirklichkeit fragt, sondern aus einem perfekten Kalkül heraus selbstständig alle Wahrheiten ableiten will. Die physikalischen Überlegungen von Leibniz beruhen stets auf einer Verbindung von philosophischen und mathematischen Überlegungen und schließen das Moment der Erfahrung und der Messbarkeit systematisch aus, wodurch für ihn die darauf bezogene Funktion des absoluten Raumes verzichtbar wird. Wie wir sahen, kann man die Frage nach dem Raum (passives Prinzip) nicht unabhängig von der Dynamik (aktives Prinzip) behandeln. Wenn wir Leibnizens Weltsicht physikalisch interpretieren, so bestehen wesentliche Unterschiede gegenüber Newton darin, dass Leibniz keine Fernwirkungen zuließ, dass er aufgrund seines Kontinuitätsprinzips keine plötzlichen, unstetigen Geschwindigkeitsveränderungen durch Stoß anerkannte und dass er annahm, die Größe mv2 (Energie) bliebe erhalten und nicht mv (Impuls).[3] All diese Annahmen führten dazu, dass es keine erfolgreiche "Leibnizsche Mechanik" gibt, obgleich Leibnizens Kritik an der absoluten Raumvorstellung von Newton geschichtlich immer wieder aufgegriffen und über viele Irrungen und Missverständnisse hinweg produktiv weiter geführt wurde.
In der Philosophie von Immanuel Kant bekam die alte Fragestellung nach der Wirklichkeit oder Scheinhaftigkeit des Raumes eine neue Fassung. Kant verallgemeinerte dabei den Status des Raumes aus den atomistischen und newtonschen Vorstellungen als Bedingung der Denk- und Vorstellbarkeit von Bewegung. Kants Sichtweise erlaubt gar keine Fragestellung danach, ob es den Raum unabhängig von unserer Wahrnehmung gäbe. Er wird deshalb nicht aufgefasst als (ontologisch) real existierendes Behältnis aller Erscheinungen, sondern als epistemologische Bedingung des Wahrnehmens und Erkennens. Trotzdem ist die Raumvorstellung auch nicht beliebig willkürlich oder subjektiv, denn obwohl sie uns "a priori im Gemüte gegeben" ist, enthält sie "Prinzipien der Verhältnisse" der Gegenstände. (ebd.: 70) Erscheinungen sind Erscheinungen von etwas und dies geht in die Vorstellungen ein.[7] Der Neukantianer Ernst Cassirer macht darauf aufmerksam, inwiefern diese a priori Voraussetzung die Grundlage der Newtonschen Physik ist. Leeres wird gebraucht, damit Bewegung denkbar wird. Fußnoten: [1] Körper verharren ohne die Einwirkung äußerer Kräfte in ihrem Bewegungszustand (der Ruhe oder der geradlinig gleichförmigen Bewegung). [2] So formulierte beispielsweise Ernst Mach, "daß das Weltsystem uns nur einmal gegeben, die ptolemäische oder kopernikanische Auffassung aber unsere Interpretation, aber beide gleich wirklich sind" (Mach 1921: 222). Zu Mach siehe von Borzeszkowski, Wahsner 1989: 49ff.. [3] Leibniz hielt den Ausdruck mv2 für den Ausdruck für die Kraft; Descartes den Ausdruck mv. Erst im Newtonschen Begriffsystem kann der Leibnizsche als Ausdruck der Energie und jener von Descartes als Impuls verstanden werden, während bei Newton die Kraft die zeitliche Ableitung des Impulses ist (die Kraft ist hier nicht "Masse mal Geschwindigkeit", sondern "Masse mal Beschleunigung"). [4] Auch im dialektischen Materialismus wird der Erkenntnisprozess als niemals abgeschlossen angenommen, also niemals die "absolute Wahrheit" (Lenin MuE: 116), das wäre die Erkenntnis der Dinge "an sich", erreichend. Er betont allerdings in optimistischerer Weise die Möglichkeit der "unendlichen Annäherung", während bei Kant Agnostizismus folgen kann. [5] a priori: vor aller Wahrnehmung (Kant KrV: 69, B 41). [6] Die Frage, ob zuerst die Raumzeitvorstellung Erfahrung ermöglicht (Kant) oder ob die Raumzeitvorstellung selbst aus der Erfahrung stammt (Helmholtz, vgl. Hörz 1971: 268f.) erinnert ein wenig an die Henne-und-Ei-Frage. Seit wir wissen, dass die Raumzeitvorstellung eng mit den jeweiligen sich bewegenden Gegenständen verbunden ist, lässt sich die Einheit von angemessener Raumzeitvorstellung und konkret untersuchter Bewegungsform nicht mehr auftrennen in ein zeitliches oder logisches Nach- bzw. Nebeneinander. [7] siehe vorige Fußnote: Raum und Zeit sind in modernen Theorien insofern a priori, als sie nicht direkt aus den dynamischen Grundgesetzen ableitbar sind, aber sie sind auch nicht willkürlich, sondern es müssen gerade solche Raumzeitkonzepte sein, die eine konkrete physikalische Erfahrung in diesem Gegenstandsbereich ermöglichen.
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