1.3 Prozess- und Strukturordnung begreifen

Wenn wir davon ausgehen, dass die wirkliche Welt von nichtlinearen, d.h. rückbezüglichen Wechselwirkungsprozessen durchzogen ist, dass gegensätzliche Phänomene aufeinander einwirken, dass sich Qualitäten allmählich, aber auch häufig sehr sprunghaft verändern, so wären Erkenntnis- bzw. Denkformen nicht angemessen, die entweder das Besondere unter gemeinsames Allgemeines subsumieren oder in dualen Vorstellungen verhaftet bleiben. Allerdings ist das Auffinden von unterscheidbaren und bestimmten Phänomenen und auch von identitätsstiftenden zuschreibbaren Bestimmungen ebenfalls wichtig, um nicht orientierungslos zu bleiben.

Angesichts dieser Herausforderungen haben sich im Verlauf der Kulturentwicklung viele Methoden entwickelt, von denen Hegel die wohl wichtigsten aufgreift und verwendet, um die zu seiner Zeit höchstmögliche Einheit dieser teilweise auch gegensätzlichen Methoden zu finden. Er verwendet bestimmte Methoden (z.B. unterscheidend zu analysieren und synthetisierend zu vereinheitlichen), die, wenn man sie verabsolutiert, vereinseitigte Extreme wären. Und er verwendet sie so, dass ihre Unterschiede erhalten bleiben, sie aber in ihrer Kombination eine tiefere Erkenntnis der jeweils der Dynamik zugrunde liegenden Prozess- und Strukturordnungen ermöglichen.

Diese Prozess- und Strukturordnungen sind einerseits die Ausgangsbasis des Erkennens, um ein praktisches Eingreifen durch die Menschen zu ermöglichen, andererseits stellen Menschen selbst zweckmäßige neue Prozess- und Strukturordnungen her. In diesem Wechselspiel des Ausgehens von Gegebenem und dem Schaffen von Neuem vereinen sich auch Vernunft und Freiheit. Es ist nicht sinnvoll zu denken, die Vernunft analysiere nur das Gegebene (und unterwerfe sich diesem im Zweifelsfalle) - während die Freiheit das Gegebene zurückweist und überschreitet, sondern beide Momente: das Erkennen des Gegebenen und das Überschreiten, bedürfen einander.

Angesichts der zu Hegels Zeiten bereits vorhandenen Fülle an kulturellen, insbesondere begrifflichen Vorarbeiten und die durch Hegel vorgenommene konkrete inhaltliche Präzisierung machen das alles tatsächlich recht kompliziert - insbesondere wenn man nicht viel Zeit zum Studium der gesamten Kultur- und Philosophiegeschichte hat. Dabei liegt die Kompliziertheit der entsprechenden Texte nicht unbedingt am sprachlichen Unvermögen derer, die über Philosophie schreiben, sondern an der vertrackten, vielschichtigen Verschlungenheit der Phänomene dieser Welt. (Hiermit möchte ich insb. Hegel verteidigen - sollte es mir selbst schlecht gelingen, mich zu artikulieren, so bin ich über entsprechende Hinweise und Verbesserungen durchaus dankbar).


 
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