Lese-Bericht von Annette Schlemm:

Brian W. Aldiss, Roger Penrose: Weißer Mars

Wilhelm Heyne Verlag München, 1999

 

1999 ist das Jahr des Mars. Eine - leider vom Mißerfolg ereilte - NASA-Marsmission wird gestartet und vor dem Ende der Raumstation Mir und der Fertigstellung der neuen Raumstation ISS richtet sich der Blick bereits über diese Horizonte hinaus: Zum Mars!

Er wird zur Projektionsfläche für "Eine Utopie des 21. Jahrhunderts", wie der Untertitel des vom bekannten SF- Autoren Aldiss und nicht weniger berühmten Physikers Penrose geschriebenen Buches "Weißer Mars" in der deutschen Ausgabe lautet.

Beginnend mit der Beschlußfassung zur Marsmission im Jahre 2035 werden in der Erzählung aus der Sicht der Beteiligten Argumente für und wider die Mission und später verschiedener Handlungsmöglichkeiten differenziert vorgestellt. Der Schwung der Handlung verliert dadurch etwas - für eher der denkenden Analyse zugeneigte Leser(innen) ist es jedoch gut nachvollziehbar. Bereits zu Beginn stoßen die verschiedensten Interessen aufeinander. Wäre es nicht weit lohnender, die enormen Investitionen, die wir für außerirdische Abenteuer tätigen müssen, für die Lösung der Probleme auf der Erde einzusetzen? Oder hat die Gattung Mensch die Bestimmung, das gesamte Sonnensystem zu erobern? (S. 20) Sollte der Mars den Bedürfnissen der Menschen unterworfen werden, oder muß er in seiner Eigenart beschützt und bewahrt werden? Als solcher sollte er - wie die Antarktis auf der Erde - der Wissenschaft vorbehalten bleiben - als Weißer Mars. (S. 23) Die Autoren beziehen sich damit auch auf die Bücherreihe von Kim Stanley Robinson - Roter Mars, Grüner Mars, Blauer Mars - die von 1993 bis 1996 erschien (auf deutsch 1997 und 1999 im Wilhelm Heyne Verlag München herausgekommen).

In der Version des "Weißen Mars" verblüffen die im Jahre 2041 den Mars betretenden Menschen die irdische Basis mit ihrer Entscheidung: "Wir wollen nicht diesen Planeten verändern, sondern versuchen, uns selbst zu ändern." (S. 33) Deshalb lautet der englische Untertitel dieses Buches auch: "Befreiter Geist" - in Anspielung auf den Roman "Befreite Welt" von H.G. Wells.

Inzwischen sind auf der Erde "die angenehmen Zeiten des 20. Jahrhunderts, als der individuelle Reiseverkehr per Straße, Schiene oder Wasser noch gang und gäbe war, ... ein für allemal vorbei." (S. 56) Die Kluft zwischen Megareichen und extrem Armen wird immer größer. Aldiss und Penrose werden erstaunlich deutlich: "Auf dem Heimatplaneten wurde das Gerangel um eine Existenz in bescheidenem Wohlstand immer heftiger. Um seine endlose Gier nach Profit zu stillen, hatte der Kapitalismus eine Wirtschaft des Überflusses hervorgebracht - ergänzt durch eine Wirtschaft des Mangels, deren Märkte sich die kapitalistischen Unternehmer unter den Nagel reißen konnten." (S. 66) Die Autoren verzichten auf verfremdende oder nur überzeichnende Darstellungen. Die Anti-Utopien früherer Zeiten sind längst Realität geworden.

Aufgrund der immer stärker wachsenden Probleme auf der Erde zieht es viele junge Menschen zum Mars. Sie bilden eine neue Gemeinschaft, können von Grund auf neu anfangen. "Die meisten Marsianer hatten die irdische Vergötzung des Geldes über Bord geworfen - und die anderen Götter gleich mit." Sie entwickeln ein Alternativprogramm zur irdischen Realität, entscheiden sich für eine eigene Unabhängigkeitserklärung (S. 41f. ) und legen folgende Regeln fest:

  • Waffenverbot, Rauchverbot
  • unabhängiges Rechtssystem
  • Förderung bestimmter Arten von Forschung
  • "Das einzelne Ego muß sich den Bedürfnissen der ganzen menschlichen Gemeinschaft auf dem Mars unterordnen." (S. 49)
Wie lange die unterschiedlichen Interessen von Erde und Mars gegeneinander stehen können, oder ob sich die Konzerninteressen, wie bisher auf der Erde im Rahmen der neoliberalen Globalisierung auch auf dem Mars durchsetzen würden, braucht hier nicht ausprobiert werden. Aldiss und Penrose befreien ihren Mars von dieser Bedrohung durch den Kunstgriff, auf der Erde durch einen Börsenkrach die Konzerne zusammenbrechen zu lassen. (S. 74f.) Dadurch werden Erde und Mars auch voneinander isoliert, weil kein Konzern mehr Raumfahrt anbietet. "Jetzt haben wir die Freiheit, unsere Zukunft konstruktiv zu gestalten" - meinen die Marsianer. Sie verabschieden sich von nationalem Zwist oder Eigeninteressen und betrachten die Symbiose von Flechte und Pilzen als inspirierendes Beispiel für ihre Kooperation (S. 90, 280). Die grundsätzlich andere Weltsicht der Marsianer wird auch ausdrücklich von jener auf der Erde unterschieden. Die irdischen Ansichten - die Schreckgespenster - müssen als kritikwürdig erkannt und abgelehnt werden, bevor eine neue Weltsicht sich durchsetzen kann (S. 96-113). Demgegenüber werden neue Denkprinzipien eingeführt.

Das erste Schreckgespenst besteht in einem falschen Geschichtsverständnis: Geschichte wird mit evolutionärem Fortschritt gleichgesetzt, es wird angenommen, die tiefgreifenden kulturellen Unterschiede seien lediglich eine Episode auf dem Weg zu einer universellen Übereinstimmung (die in der euro-kaukasischen, weißen Vorherrschaft vorgebildet sei). Demgegenüber verstehen die Marsianer Geschichte als Abfolge von "Ichs" mit ihren jeweiligen Erfahrungen in der Kette der Evolution (S. 219). Das zweite Schreckgespenst ist der Anthropozentrismus: Menschen betrachten alles auf der Erde danach, ob es ihren Zwecken dienen kann. Drittens führt das Diktat des Marktes dazu, daß das Streben nach Gewinn mehr Gewicht erhält als Bedürfnisse der Gesellschaft. Der Profit geht dabei auf Kosten des zivilisierten Lebens. Das vierte Schreckgespenst besteht darin, daß wir durch die Öffentliche oder Veröffentlichte Meinung die Mythen der Epoche im allgemeinen nicht in Frage stellen. Das fünfte besteht in der immer weiter aufreißenden Kluft zwischen Arm und Reich.

Nach der Isolation des Mars von der Erde beginnt das, was Christoph Spehr in einem Vortrag eine "schlechte Utopie" nennt. Die Autoren haben eine "Spielwiese" für ihre utopischen Gedanken geschaffen, die sich nicht mehr mit der Frage des Übergangs von der jetzigen Situation in diese gewünschten Zustände beschäftigen muß. "Wir haben großes Glück, daß wir das Pech gehabt haben, auf dem Mars zu stranden!" (S. 155) Nichtsdestotrotz sind die von der Umsetzungsfrage befreiten Vorstellungen diskussionswürdig. Wie soll es eine Regierung geben, wenn kein Geld für Steuern da ist? Wie können sich Regeln des Umgangs mit den knappen Ressourcen herausbilden? Das Bildungswesen muß reformiert werden. Der bürgerliche Gleichheitsgrundsatz, dementsprechend alle Menschen nur insofern gleich sind, daß sie unter gleichen Voraussetzungen miteinander konkurrieren können, wird ersetzt durch den Grundsatz, daß alle Männer und Frauen die gleichen Möglichkeiten haben müssen, ein erfülltes Leben zu führen. (S. 143)

Gleichzeitig wird immer wieder die Frage gestellt, ob so eine Utopie überhaupt möglich ist, oder ob die menschliche Natur sie verhindern wird. (S. 147f.) Die utopische Gesellschaft braucht Ruhe und Ordnung - aber das menschliche Nervensystem verlangt nach Unordnung und Aufregung. Wir wollen Verhaltensregeln - aber in der menschlichen Natur liegt es, gegen Regeln zu verstoßen. Wir wollen etwas Neues aufbauen - aber in den Menschen liegen tiefverwurzelte "Schattenseiten".... Brian W. Aldiss äußert in einem dem Buch angefügten Interview mit der Übersetzerin Usch Kiausch, daß er nicht glaubt, daß Utopien Wirklichkeit werden können, weil die menschliche Natur dagegen steht. Aber trotzdem sollten wir nicht damit aufhören, uns eine bessere Welt zu wünschen (S. 464f.).

Auf dem weißen Mars sind die alten "Klammern" der Gesellschaft - Nationalistische Identität oder Geldwirtschaft - aufgehoben. Das Gemeinschaftliche muß aus den einzelnen Menschen selbst erwachsen. "Wir müssen unser Verhalten verbessern, ehe wir zu den Sternen vorstoßen." (S. 183) Tatsächlich igeln sich die Marsianer in Zukunft nicht ein, sondern das Buch endet mit dem Nachwort einer Jupiterin.

 

Um die Darstellung der Utopie auf dem Mars nicht allzu plakativ werden zu lassen, versuchen die Autoren Spannung zu erzeugen durch die Forschung an den "Higgs-Schlieren", jenen Entitäten, die in der Frühzeit des Universums eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Masse hatten. (S. 228ff.). Das zweite spannungstragende Element ist die Entdeckung, daß es auf dem Mars mindestens noch ein - und noch dazu sehr gewaltiges - Lebewesen außer den Menschen gibt...

 

Inhaltlich bemüht sich der "Weiße Mars" um die Darstellung einer Utopie des 21. Jahrhunderts, wie der Titel ausdrücklich verspricht. Die Probleme der Gegenwart werden deutlich konstatiert, brauchen nicht einmal mehr zugespitzt zu werden. Auf dem bisherigen Entwicklungsweg geht es nicht mehr weiter: "Verbesserung bedeutet ein Brechen mit der Vergangenheit, nicht deren Fortsetzung." (S. 158) Die Alternative wird auf dem Mars durchgespielt. Die dabei verwendeten Prinzipien sind sympathisch: kein Geld, Administration nur im Übergang... Besonders neu sind diese Ideen nicht. Inwiefern es im 21. Jahrhundert eher möglich sein könnte, sie zu verwirklichen als früher, wird bei Aldiss und Penrose nicht geklärt. Eine Schwerpunktverlagerung wird jedoch deutlich: nicht von mehr Technik wird der Fortschritt bestimmt - sondern sogar das einfache Überleben hängt davon ab, ob und wie sich die menschlichen Beziehungen grundlegend verändern.

Manchmal liest sich das ganze Buch wirklich nicht wie ein Roman, sondern eine theoretische Abhandlung, bei dem die verschiedenen Positionen den entsprechend hinzukonstruierten Romanfiguren in den Mund gelegt werden. Mich erinnert diese Schreibweise an utopische Romane aus der realsozialistischen Welt der 60er und 70er Jahre. Belletristische Innovation sucht man hier vergeblich, nicht einmal der Zeitgeist der Science Fiction ist eingeholt. Trotzdem ist dieser Rückgriff auf Utopien alten Stils durchaus berechtigt. Warum muß heutzutage alles cyperpunkig-postmodern verpackt sein? Warum nicht auch einmal wieder Klartext? Keine Konzessionen an das zu machen, was von anderen als (literarischer) Fortschritt definiert wird, ist nur konsequent. Wer nicht vordergründig Action, Sense of Wonder oder Science Fiction sucht, sondern eher an grundsätzlichen Fragen der Zivilisationsentwicklung interessiert ist, wird in dem Buch eine recht annehmbar verpackte Übersicht aktueller Fragestellungen und Diskussionsmöglichkeiten finden.

- erschien in IPRO-EXPRESS 3/4/2001 -

Bestellen


Weitere Rezensionen



[Homepage] [Gliederung]

Stübchen Gliederung


- Diese Seite ist Bestandteil von "Annettes Philosophenstübchen" 2001 - http://www.thur.de/philo/rez/weissermars.htm -