Dies ist keine Rezension.
Dies ist eine ultimative Aufforderung zum Lesen dieses Buches!!!

Marge Piercy: Frau am Abgrund der Zeit

Argument Verlag, 1996

Der Rückseitentext ließ mich dieses Buch zweimal auf einen Büchertisch zurück legen. Nein, ich habe keinen Bock auf die "Slums von New York" und Psychopharmaka-Horror. Eine weitere Anti-Utopie kann mir gestohlen bleiben. Seit die real gewordenen negativen Utopien Tag für Tag mehr sogar in unseren privilegierten Alltag eindringen, will ich weder in Science Fiction noch in "Social Fantasies", wie die Reihe im Argument-Verlag heißt, in der das Buch nach der amerikanischen Originalausgabe von 1976 in neu bearbeiteter Übersetzung erschien, noch mehr davon lesen.

Aber im Internet läßt person (womit Marge Piercy das maskuline "man" ersetzt) sich doch eher verleiten, noch ein Buch mehr zu bestellen. Also los.... Ja, es geht knallhart los. Wir begegnen Consuela, die sich Connie nennen läßt, an einem Tiefpunkt ihres Lebens. Sie hatte einst sogar zwei Jahre das College besucht, sich diese Zukunft durch eine Schwangerschaft vermasselt und erlebte seitdem nur kurze Glücksmomente, bis ihr das zweite, geliebte Kind entrissen und zur Adoption frei gegeben wurde. Aber damit nicht genug: als sie sich schützend vor ihre Nichte Dolly stellt, als deren Zuhälter einen Kurpfuscher zum Ausschaben auf sie hetzt, wird sie endgültig in den Abgrund gestoßen. Sie landet wegen Gewalttätigkeit in der Klapsmühle.

Die nun folgenden Schilderungen der Ausweglosigkeit, der Zerstörung der Persönlichkeit, der Verzweiflung und Abtötung alles Menschlichen in diesen Anstalten würde ich vielleicht unter übersteigerter Darstellung verbuchen, wenn ich nicht die Berichte aus mehreren Psychatrien dieser Welt und speziell die erschütternden Berichte von Kate Millett gelesen hätte. Nein, hier ist nichts in die Zukunft verlagert – hier wird die Lebensrealität von Tausenden Menschen geschildert, deren einzigstes Problem darin besteht, arm und/oder widerspenstig zu sein.

Connie´s Schicksal wird nur dadurch erleichert, daß sie Besuch aus der Zukunft erhält. Nein, keine Einbildung, der junge Mann hinterläßt eine warme Stuhlfläche. Er erklärt ihr, daß sie sehr empfänglich sei und er eine gute Sendeperson sei, so daß sie zueinander finden konnten. Sie verbringen immer mehr der bleiernen, toten Anstaltszeit miteinander. Luciente, der Gast aus der Zukunft, kann Connie schließlich sogar mit in die Zukunft nehmen. Zuerst ist sie skeptisch, denn sie sieht keine Wolkenkratzer, sondern Dörfer, wie sie sie von ihrer elenden Kindheit her kennt. Aber alles ist anders. Die Menschen sind glücklich, sie zeigen ihr ihr Leben, ihren Alltag, ihre Probleme und wie sie damit umgehen.

Damit verwendet Marge Piercy eine typische Methode zur Darstellung einer utopischen Welt: sie läßt die Einwohner ihre Welt einem unwissenden Besucher erklären, so daß auch die LeserInnen es mitbekommen. Ich habe es selten so spannend berichtet gefunden, nicht plakativ, nicht belehrend.

Auf diese Weise lebt Conny in zwei Zeiten, die zwei Welten entsprechen. Aber das ist noch nicht alles. Connie hat in dieser schönen Zukunft sogar ein kleines Mädchen gefunden, das ihre Tochter sein könnte. Aber dies ist kein Trost, der Ausflug in die Zukunft bietet keine Ausflucht aus der Realität. Denn daß diese utopische Zukunft einmal existieren wird, steht noch nicht fest.

"Ich verstehe vieles nicht, was zu uns geführt hat", sagte Luciente... "Und es führt auch nicht unvermeidlich zu uns, verstehst du? Diejenigen in deiner Zeit, die für eine Veränderung gekämpft haben, glaubten oft an den Mythos, daß eine Revolution unvermeidlich sei. Das ist aber nicht der Fall. Alles ist ineinander verwoben. Wir sind nur eine mögliche Zukunft. Verstehst du?" Lucientes Hand auf ihren Rippen wurde eisenhart. Ihre Stimme klang scharf und ernst.
"Aber ihr existiert doch!" Sie versuchte zu lachen. "Es ist doch schon entschieden!"
"Vielleicht. Deine Zeit ist eine Welt der Krise. Verschiedene Welten existieren nebeneinander. Wahrscheinlichkeiten prallen aufeinander, und immer gibt es mehr als eine Möglichkeit."


Das klingt abstrakt und weit weg vom wirklichen Leben. Nachdem Connie sich gerade mit dieser möglichen Zukunft angefreundet hat, erfährt sie nun, daß ihr Leben und ihr Tun oder Lassen entscheidend dafür sein kann, ob sich diese Möglichkeit verwirklicht.

"Wovon redest du überhaupt?"
"Du bist hier, um zu lernen." Luciente blieb stehen und blickte ihr forschend ins Gesicht. "Du! Unsere Vorfahrin!" (S. 215) [...]
"Dir als Individuum gelingt es vielleicht nicht, uns zu verstehen oder in deinem eigenen Leben und in deiner Zeit zu kämpfen. Und euch allen gelingt es vielleicht nicht, in eurer Zeit gemeinsam zu kämpfen." Seine Stimme klang warm, fast scherzend, und doch sagten ihr seine Augen, daß er es ernst meinte."Wir müssen kämpfen, um wirklich zu werden, um wirklich zu bleiben, um die Zukunft zu sein, die sich wirklich ereignet. Deshalb haben wir zu dir Kontakt aufgenommen."

Wieso aber ausgerechnet zu ihr? Was kann sie schon tun? So viel Verantwortung macht ihr außerdem Angst.

"[...] Was kann ich schon tun? Wer könnte weniger Macht haben als ich? Ich bin eine Gefangene. Eine Patientin. Ich darf nicht einmal eine Schachtel Streichhölzer bei mir haben oder mein eigenes Geld behalten. Diesmal habt ihr euch die Falsche als Erretterin gewählt!"
Aber nein, gerade wegen ihrer Ohnmacht ist sie die Richtige:

"Nicht die Mächtigen machen die Revolutionen", sagte Gast mit einem breiten, strahlenden Lächeln." (S. 240)

In der psychiatrischen Klinik beginnen inzwischen Versuche, den angeblich Gewalttätigen Elektroden ins Hirn zu pflanzen, durch die alle Emotionen elektrisch gesteuert werden können. Die erste Versuchsperson verliert alle Individualität und wird zu einem Zombie. Connie ist in der gleichen Versuchsgruppe. Sie schafft eine Flucht und wird wieder aufgegriffen. Es wird alles nur noch schlimmer. Luciente bleibt wochenlang aus. Als Connie auf eigene Faust versucht, in Lucientes Welt vorzustoßen, landet sie in einer anderen möglichen Zukunft. In einer, die noch schlimmer ist, als die schlimme Gegenwart Connies.

Sie versteht, daß die Zukunft "noch nicht geschrieben" ist. Und wenn sie nichts dagegen tut, wenn niemand etwas dagegen tut, wird alles tatsächlich noch unerträglicher. Sie weiß dies nun – sie hat beide Möglichkeiten erlebt.

In diesem Moment entscheidet sie sich dafür, zu kämpfen. Sie versucht nicht mehr nur zu überleben, sie weiß sich als Kämpferin in einem Krieg , der entscheidet, welche Zukunft sich durchsetzt. Ab diesem Moment lebt sie anders – sogar in ihrer Situation kann sie wählen, wie sie sich verhält, sie kann immer noch planen und sie wird etwas tun...

Connie lebt in unserer Zeit, in unserer Welt. Hier wird die Zukunft entschieden. Hier und heute und durch uns.

Eigentlich lese ich Romane, um mich von der vielen Fachliteratur und den vielen Katastrophenmeldungen in den Medien zu erholen. Marge Piercy jedoch zeigt mir, daß auch ich am Abgrund der Zeit stehe – auf einer Gratwanderung auf der Suche nach der lebenswerten Zukunft.


Ausschnitte zu folgenden Themen:
Die mögliche utopische Zukunft

Arbeitsorganisation
Lernen/Studieren
Politik
Geschlecht/Rasse
Über Fortschritt
Psychiatrie

Bestellen


Weitere Rezensionen

[Homepage] [Gliederung]

Stübchen Gliederung


- Diese Seite ist Bestandteil von "Annettes Philosophenstübchen" 2002 - http://www.thur.de/philo/rez/piercy.htm -