Wie wirklich sind Naturgesetze?
Auf Grundlage einer an Hegel orientierten Wissenschaftsphilosophie

Zusammenfassung:

Die Arbeit stellt sich die Aufgabe, neue Erkenntnisse zum Verhältnis von Wirklichkeit und Naturgesetzen zu gewinnen. Die übergreifende Fragestellung, ob und wie die Kenntnis von Gesetzmäßigkeiten im menschlichen Handeln bedeutsam ist, soll dabei Berücksichtigung finden, aber nicht explizit thematisiert werden. Wenn es um das Verhältnis von Wirklichkeit und Naturgesetzen geht, so sind zwei Herangehensweisen möglich:

  1. Wirklichkeit und Naturgesetze werden als getrennte Entitäten vorausgesetzt und es wird gefragt, ob und wie sie zusammen kommen (nominalistische Sichtweise).
  2. Wirklichkeit und Naturgesetze werden als Momente einer umfassenderen Einheit betrachtet und es wird gefragt, was ihre Unterscheidung bedeutet (dialektische Sichtweise).
In meiner Arbeit entschied ich mich für die zweite Variante. Die Berechtigung der vorgenommenen Entscheidung wird sich im Fortgang der Arbeit zeigen. Dadurch entsteht die Frage, was als umfassende Einheit angesehen wird. Die Einheit, aus der heraus sich unsere Wirklichkeit und Naturgesetze als Momente ableiten lassen, ist die menschliche Lebenstätigkeit, die Praxis. Unsere Wirklichkeit und Naturgesetze sind Momente der menschlichen Lebenstätigkeit, der Praxis. Ihr Verhältnis ist deshalb nicht ein äußerliches, bei dem zu fragen wäre, wie beide Elemente als einander äußerliche zueinander in Beziehung kommen, sondern ein inneres, bei dem ihre Unterscheidung eine Erklärung verlangt.

Menschliche Lebenstätigkeit (Praxis) und Wissenschaft

Menschliche Lebenstätigkeit unterscheidet sich dadurch von der tierischen, dass sie als Gattung ihren Umweltbedingungen nicht ausgeliefert ist, sondern ihre Welt bewusst gestaltet. Dies entspricht der den Menschen wesentlichen "Möglichkeit des Andersseins" (Aristoteles NE: 110). Für Menschen ist damit nicht nur die "Realität" als bestimmtes Sein, in dem die Negativität sich noch versteckt (Hegel WdL I, 119), der Gegenstand ihres Interesses, sondern die "Wirklichkeit" als konkrete wesentliche Existenz, die das Mögliche in sich enthält. Noch nicht verwirklichte Möglichkeiten in Wirklichkeit zu bringen, anders zu werden, Neues kreieren zu können, setzt voraus, die Veränderbarkeit der Wirklichkeit zu erkennen. Die spezifische Aufgabe der Wissenschaft ist deshalb die Erforschung der Veränderbarkeit. Daraus, dass Wissenschaft nur insofern erforscht, wie etwas tatsächlich (real) ist, als sie daran interessiert ist, wie es sich verändern lässt, begründet sich ihre immanent kritische Funktion. Indem die Wissenschaft die Frage der Veränderbarkeit auch auf sich selbst anwendet, hat sie auch sich selbst gegenüber eine kritische Funktion, klärt sie sich über sich selbst auf.

Neuzeitliche Wissenschaft - am Beispiel der Physik

Der Gegenstand der neuzeitlichen Physik ist die Veränderung von bestimmten Zustandsgrößen, d.h. bestimmte Bewegungsformen. Diese Bestimmung entspricht unserem Interesse an Veränderbarkeit - im Unterschied zu anderen möglichen Bestimmungen, wie der Erforschung sog. okkulter Qualitäten oder unendlicher Kausalketten. Allein die Herauslösung der als physikalisch bestimmten Bewegungsformen aus der Totalität des Weltganzen ist eine Minderung der vollständigen Welt-Dialektik. Der Bezug auf Hegel ist nun darin zu sehen, dass Hegel das Begreifen des "Wahren" begriffslogisch, als vernünftig, bestimmt (vollständige Dialektik) ist, während das im Vergleich dazu beschränkte verständige "dialektische" Denken die Widersprüchlichkeit auf die Reflexion von (wesenslogischen) Wechselwirkungsbeziehungen reduziert. Die Unterscheidung der drei Hegelschen Logiken Seinslogik-Wesenslogik-Begriffslogik ermöglicht deshalb eine Einordnung des einzelwissenschaftlichen Erkennens in das wesenslogische Erkennen, was sich auch in der expliziten Behandlung des Gesetzes bei Hegel in dieser Logik zeigt. Eine zweite derartige Einschränkung ergibt sich aus folgendem: Bewegungen unterliegen dem seit Zenon bekannten Widerspruch der Bewegung: Indem sich ein Körper bewegt, ist er nicht mehr am ersten, aber auch noch nicht am nächsten Ort. D.h. der Bewegungszustand zu einem Zeitpunkt kann nicht eindeutig durch eine Ortsangabe bestimmt werden. Die Lösung des Problems besteht in der Einführung der Größe Geschwindigkeit. Dadurch kann der Bewegungszustand durch die Angabe einer Zeit, einer Raum- und einer Geschwindigkeitsangabe eindeutig und logisch nicht widersprüchlich bestimmt werden. Dabei werden die Momente des Widerspruchs der Bewegung in zwei Pole auseinandergelöst, der eine Pol umfasst Raum- und Zeitkomponenten, der andere die Geschwindigkeit. Diese Lösung ist keine strikte Trennung, denn die jeweilige Einheit wird in den Bewegungsgleichungen wieder - in quasi wesenslogischer Form - erfasst. Renate Wahsner und Horst- Heino von Borzeszkowski nennen das Ergebnis dieser Auseinanderlösung "Dualismus". Der Dualismus zeigt sich in verschiedenen Aspekten der Wissenschaft: Zum Zweck der Bildung von messbaren Größen werden einzelne qualitative Verhaltensweisen aus der Mannigfaltigkeit von Verhaltensformen herausgelöst und zwar jene, bezüglich derer die Bewegungen verschiedener konkrete Dinge verglichen werden können. Messgrößen stellen deshalb keine "an sich" isolierten Eigenschaften der Dinge dar, sondern sie sind "Verstandesgegenstände" (durch die Herauslösung aus dem Gesamtkomplex qualitativer Verhaltensweisen), aber ihre Bildung erfolgt auch nicht völlig willkürlich, sondern so, dass das Verhalten der unterschiedlichen Dinge wirklich vergleichbar wird. Eine Folge der Herauslösung von Messgrößen aus dem Gesamtzusammenhang ist die Dualität zwischen der mathematisch formulierten Darstellung von allgemein-notwendigen, wesentlichen Zusammenhänge zwischen solchen Messgrößen und der jeweiligen konkreten Einheit im praktischen Vergleichs-/Messprozess. Der Messprozess erfordert als Voraussetzung neben gegenständlichen Apparaten auch theoretische Annahmen, beispielsweise über Raum- und Zeitmaße, die dem Vergleich zugrunde liegen. Diese theoretischen Annahmen stehen in engem Zusammenhang mit der jeweiligen Theorie (sie können nicht - wie protophysikalisch angenommen - ein für alle mal für alle physikalischen Theorien gegeben sein) - aber sie sind den jeweiligen Darstellungen der Bewegungsdynamik und den konkreten Messungen vorausgesetzt (also a priori). Entsprechend unserem Hinweis von der inneren Vermittlung im Erkenntnisprozess sind neben Subjekten und Objekten auch noch die entsprechenden Mittel zu betrachten. Die a priori stellen solche Erkenntnismittel dar.

Die Rolle von Gesetzen in der Wissenschaft

Die Problematik des Gesetzes ist genau jene Schnittstelle, an der das "grundsätzliche Problem des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Lebenswelt" (Bonsiepen) thematisiert wird. Dies zeigt sich beispielsweise beim Hempel-Oppenheimer-Schema einer deduktiv-nomologischen Erklärung. Hier ergibt sich ein reales Ereignis aus dem Zusammenschluss von (mindestens einem) Gesetz und (mindestens) einem weiteren empirisch gehaltvollen, wahren Satz (beispielsweise über Anfangs- oder Randbedingungen). Auch bei Hegel zeigt sich diese Mittelstellung aus der Stellung des Gesetzes in der Wesenslogik (dem verständigen Erkennen, bzw. der beobachtenden Vernunft). Gesetze kennzeichnen allgemein-notwendige Zusammenhänge, deren Momente im Prozess der Wissenschaft als die für den jeweiligen Gültigkeitsbereich wesentlichen bestimmt werden. Die Allgemeinheit ist dabei gerade nicht als abstrakte zu verstehen, sondern sie zielt auf die Spezifik des Gegenstandes, d.h. es geht um allgemeine Zusammenhänge, die sich aus den konkreten Verhaltensweisen der Gegenstände notwendigerweise ergeben. Gesetze geben also Auskunft über mögliche Verhaltensweisen unter bestimmten Bedingungen. Da die Unterscheidung zwischen Möglichkeit und Unmöglichkeit sowie das Wissen über veränderbare Bedingungen wichtig für eine Handlungsorientierung ist, ist hiermit das Moment des von uns ausgehenden Handelns und das Moment der Widerständigkeit der Weltgegebenheiten gegen unser Handeln vereingt. Diese Einheit erkennen wir in der neuzeitlichen Wissenschaft durch Gesetze, durch deren Wissen wir erfassen, welche Widerständigkeit die Weltgegebenheiten gegen welche Einflussnahmen ausüben, bzw. wie welche Bedingungen zu verändern sind um bestimmte Effekte zu erreichen oder zu vermeiden.

Wissenschaft begründet und begrenzt ihre Objektivität

Aus der Tatsache, dass naturwissenschaftlich erkannte Gesetze nicht die vollständige Dialektik abbilden, ergibt sich auch ihre Beziehung zur Objektivität. Sie sind keine subjektivistisch-willkürlichen Konstruktionen, sie erfassen die Totalität der Welt aber auch nicht in ihrer vollen Widersprüchlichkeit. Da wir Teil der umfassenden natürlichen Gegebenheiten sind, die wir auf diese Weise erforschen, sind die von uns eingeführten a priori- Voraussetzungen nicht "außer dieser Welt", sondern stellen selbst ein Moment des letztlich natürlichen Praxiszusammenhangs dar. Gerade weil es uns um die Möglichkeit der Veränderung der Welt geht, interessieren wir uns für die objektive Veränderbarkeit der Objekte in ihr. Die Veränderung und damit auch die Erkenntnis ist aber immer eine Veränderung und Erkenntnis durch uns und für uns. In jede Beobachtung oder Messung gehen theoretische Vorannahmen (z.B. messtheoretische Apriori) ein. Der a priori-Anteil ist aber gerade so gestaltet, dass er den Anschluss an die Wirklichkeit ermöglicht. Messgrößen sind nicht einfach Eigenschaften der Dinge "an sich", sondern sie entstehen als Verstandesgegenstände. Sie erfassen jedoch wirkliche Verhaltensweisen der Naturdinge. Auch im Experiment wirken subjektive und objektive Momente zusammen: Präparation, Messung und Deutung der Ergebnisse sind stark subjektiv bestimmt - der Ablauf und das Ergebnis sind aber unabhängig vom Bewusstsein der Menschen. die Gesetze schließlich beschreiben Verhaltensmöglichkeiten der Objekte in einer gegebenen Grundqualität, ihre Anwendbarkeit ist aber immer an (veränderbare) Bedingungen geknüpft. Würde je eine Seite dieses Zusammenhanges verabsolutiert, würden wir einseitige Wissenschaftstheorien erhalten. Verabsolutierung bedeutet hier, dass die jeweiligen Erkenntnismittel einer Seite, entweder dem Objekt oder dem Subjekt zugeschlagen und nicht in ihrer vermittelnden Rolle betrachtet würden. Bei der Verabsolutierung der Begründung der Objektivität erhielten wir eine rein naturalistische Konzeption, bei der die Wissenschaft als das wahre Abbild der äußeren Welt angesehen würde. Würde dagegen die Beschränkung der Objektivität gegenüber der widersprüchlichen Totalität verabsolutiert, kämen wir zu einer rein kulturalistisch-relativistischen Ansicht, bei der die Konstruktion wissenschaftlicher Ergebnisse willkürlich und unabhängig von der Welt außer uns erschiene. Dem Gesetz kommt eine wesentliche Vermittlungsfunktion zu: Es ist nicht lediglich Beschreibung von Phänomenen, aber auch nicht Begreifen des wahren Ganzen der Welt. Seine Darstellung verwendet von Menschen erzeugte Erkenntnismittel - diese Erkenntnismittel sind gerade so konstruiert, dass sie einen Zugriff auf die Wirklichkeit ermöglichen.

Annette Schlemm:
Wie wirklich sind Naturgesetze?
Auf Grundlage einer an Hegel orientierten Wissenschaftsphilosophie

Münster, 2005

302 S., 27,90 Euro (+ Porto und Verpackg.)

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