Rezension:
Alan Woods, Ted Grant: Aufstand der Vernunft.
Promedia-Verlag Wien, 2002

Mit dem Zerfall der sich "sozialistisch" nennenden Länder sind auch viele Denksysteme in Vergessenheit geraten, ohne dass immer geprüft wurde, ob dieses Vergessen berechtigt ist oder ob jahrzehntelange Arbeitsfortschritte in den Kehricht der Geschichte geschüttet werden. Nur noch wenige Eingeweihte suchen in Antiquariaten beispielsweise nach Ergebnissen der "Philosophischen Probleme der Naturwissenschaften" aus den ehemals sozialistischen Ländern. Da angesichts der modernen Informationsüberflutung gerade junge Leute wohl kaum die anstrengende Suche danach aufnehmen werden, kommt ein neues Buch, das sich dem Verhältnis von "Marxistischer Philosophie und moderner Naturwissenschaft" verpflichtet fühlt, gerade recht. Auch wenn das Durchstudieren von 500 Seiten sicher auch nicht mehr sehr gebräuchlich ist - so breitet das Buch "Aufstand der Vernunft" von Alan Woods und Ted Grant alles Wissen des letzten Jahrhunderts doch auf angenehm verständliche Weise aus.

Je mehr uns die Schulen und Universitäten nur noch mit ökonomisch verwertbaren Informationen füttern, je weniger es das Dogma der einen, richtigen Wahrheit gibt, desto wichtiger wird das eigene Denken, das nicht aufs Begreifen von Zusammenhängen verzichtet, das aufsteht gegen Verdummung, Verzettelung und Verflachung. Ein wichtiges Hilfsmittel ist das neue Buch "Aufstand der Vernunft", dankenswerterweise herausgegeben von der Marxistischen Zeitschrift in Sozialdemokratie und Gewerkschaft "Der Funke".

Die Autoren haben sich nichts weniger vorgenommen, als eine "moderne Ausgabe der Dialektik der Natur" (S. 12) zu schaffen. Sie folgen damit dem Engelsīschen Ansatz, im Gegensatz zu den im bürgerlichen akademischen Betrieb modernen (oder postmodernen) bzw. den sich gut verkaufenden mystischen Wissenschaftsinterpreten nachzuweisen, dass die Welt "materialistisch dialektisch" zu interpretieren ist. Dazu lassen sie die neuesten Ergebnisse der modernen Naturwissenschaft Revue passieren. Die dabei angebotenen leicht verständlichen Erklärungen der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse machen das Buch besonders interessant. Wer die fast immer esoterisch angehauchten Bestseller aus diesem Bereich kennt, wird hier erstmals eine realistisch-materialistische Interpretation kennen lernen; andere werden erfreut sein, sie endlich einmal wieder zu finden. Moderne Chaostheorie findet sich im Gesetz des Umschlagens von Quantität und Qualität wieder. Eine Analogie zwischen chemischen Übergangszuständen und der Rolle von Individuen in der Geschichte wird abgeleitet. Darlegungen zur Relativitätstheorie (die besser Invarianttheorie heißen würde, siehe S. 197) und Kosmologie finden ausreichenden Platz. Hier engagieren sich die Autoren heißen Herzens gegen das Konzept des "Urknalls". Was gegenüber einer weltanschaulichen Interpretation (beispielsweise einer, die aus einem Urknall göttliche Schöpferkraft zu beweisen sucht) berechtigt wäre, verwechselt jedoch die Fronten, wenn es sich mit nicht fachwissenschaftlichen, sondern ideologischen Argumenten in die fachwissenschaftlichen Dispute einmischt. Zwischendurch reichern die Autoren ihre Darlegungen mit Erfahrungen aus der Philosophiegeschichte an und diskutieren Themen wie "Marxismus und Freiheit".

Ein "Phänomen der Gegenteiligkeit" zeigt sich in der Physik der Teilchen und Anti-Teilchen. Überhaupt beweisen die Paradoxa der Quantentheorie die Unzulänglichkeit des "Alltagsvertandes" bzw. der formalen Logik. Die Interpretation der Unschärferelation durch die Autoren lässt allerdings selbst sehr zu wünschen übrig (S. 138), ebenso wie die Abstempelung der Kopenhagener Deutung der Quantentheorie als "subjektiv idealistisch". Es bleibt nur zu hoffen, dass wenigstens im deutschen Sprachraum die alternative dialektisch-materialistische Deutung durch Ulrich Röseberg nicht völlig verloren geht. Indem die Autoren Materialität an die Sinneswahrnehmung binden (S. 132, 141) befinden sie sich noch im Bereich des mechanischen Materialismus.

Hilfreich sind die Kapitel, die die Unterschiede zwischen formal logischem und dialektischem Denken erläutern. Etwas mehr Immanenz und nicht nur äußerlich angewandte, nur abwertende Kritik wäre dialektischer gewesen. Es ist schlimm, dass es notwendig ist, gegenüber der vorherrschenden formal und analytisch dominierten Wissenschaftsphilosophie überhaupt noch so polemisch zu agieren. Mehr denn je muß dialektisches Denken gegen den Strom ankämpfen und kann weniger denn je auf organisierte alternative Bildungsformen setzen. Das verschärft die Polemik manchmal zu holzschnittartiger Kargheit, statt fortschreitendes Begreifen zu ermöglichen. Einige Begriffsbildungen muten angesichts der besseren Alternativen in der osteuropäischen Tradition unbeholfen an (z.B. Materiedefinition S. 132, Bestimmung des Zufalls S. 144). Auch beim Gesetzesbegriff hört für die Autoren die marxistische Tradition schon bei Engels auf und vernachlässigt weitergehende Ergebnisse (z.B. den Statistischen Gesetzesbegriff nach Herbert Hörz). Zur Interpretation der Klassischen Mechanik gibt es neue Erkenntnisse von Renate Wahsner. Deutschsprachige Debatten sollten daran nicht vorbei gehen. Die Aufsummierung der Beispiele für den Beweis der Gesetze der Dialektik, so interessant sie auf einer meiner Wahrnehmungsebenen sind, hinterlässt bei mir jedoch ein Unbehagen. Seit ich (auch erst nach der DDR-Zeit) wirklich viel von und über Hegel gelesen habe, ist mir bewußt, dass Hegelsche Dialektik gerade nicht das Anwenden äußerlicher "Gesetze" auf irgendwelche Inhalte ist. Und völlig ausgeblendet werden die tiefergehenden Fragestellungen: Ist das Kochen von Wasser wirklich ein angemessenes Beispiel für die von Hegel gemeinte "Entwicklung"? Sind unsere naturwissenschaftlich aufbereiteten Erkenntnisse, bei denen Meßgrößen gebildet wurden, die bestimmte reale Widersprüche (z.B. den der Bewegung) von vornherein zugunsten einer formalen Mathematisierbarkeit ausgeschlossen haben, so direkt in "Dialektik" übersetzbar? Ist nicht gerade die Abstraktheit der Selbstorganisations- und Chaostheorien genau etwas anderes als das notwendige "Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten" in der begreifenden Erkenntnis?

Obgleich methodisch wieder nur als Illustration der als richtig vorausgesetzten dialektischen Gesetze eingebracht, so ist doch die im Buch ausgebreitete Fülle moderner naturwissenschaftlicher Erkenntnis, wie z.B. auch umfangreich für die Geologie und die Entwicklung der Lebensprozesse auf der Erde, sehr spannend und aufschlussreich. Zur Entwicklung der Menschen werden wichtige Debatten, z.B. jene zur oft überbewerteten Rolle der Jagd, nachvollzogen. Moderne Untersuchungen zu Sprache und Bewusstsein werden analysiert. Die Themenfülle macht auch nicht halt vor der Frage, wie sich die Mathematik durch die Chaostheorie verändert.

Streckenweise merkt man es dem Buch an, dass es den Autoren primär darum gegangen ist, "die grundlegenden Ideen und Methoden des Marxismus zu verteidigen" (S. 11) zu bestätigen, nicht etwa, sie weiter zu entwickeln oder auch nur an schon erreichte Erkenntnisse in den ehemaligen sozialistischen Ländern (die sie auch in ihrer Bibliographie nicht erwähnen, was sicher auch dem Sprachproblem zu schulden ist) anzuschließen.

Es war in der DDR beispielsweise seit den Geschehnissen um Lyssenko klar, dass eindeutig zu unterscheiden ist zwischen einer einzelwissenschaftlichen Theorie (wie jener, die populär "Urknalltheorie" genannt wird) und der jeweiligen naturphilosophischen-weltanschaulichen Interpretation (ob dieser "Urknall" als "Anfang der Welt" interpretiert werden sollte) zu unterscheiden. Auch PhysikerInnen sprechen mit ihrer Berufsautorität oft für oder gegen bestimmte weltanschauliche Konzepte. Wenn wir als Nichtfachpersonen jedoch eine bestimmte weltanschauliche Interpretation ablehnen wollen (wie den "wissenschaftlichen Beweis der Schöpfung"), müssen wir dazu nicht die fachwissenschaftliche Theorie angreifen, wie es Woods und Grant mit der "Urknall"-theorie tun, sondern beispielsweise nachweisen, wie unangemessene weltanschauliche Analogien und kurzschlüssige Ableitungen durchgeführt werden und wie diese zu kritisieren sind (hier beispielsweise durch eine unzulässige Übertragung mathematischer Singularitätenmodelle auf die physische Realität). Es ist nicht möglich, die fachwissenschaftlichen Theorien und Modelle in nichtdialektische und dialektische einzuteilen (wie auf S. 269) und sich damit als Richter ihnen gegenüber aufzuspielen.

Unangenehm stößt mir auch ein gewisser Elitarismus auf, der sich in der Kennzeichnung des Hinterherhinkens des Bewusstseins der "Masse" (S. 26) findet. Auf der höchsten erreichbaren Ebene dialektischen Denkens befinden sich die Autoren bei alledem auch nur ansatzweise (bpsw. auf S. 105f.). Ihr Hegel ist immer noch durch die traditionell "engelsistisch" verkürzten Lesarten reduziert auf die drei "Gesetze der Dialektik", deren ständige Anwendbarkeit beschworen wird. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, dass die Interpretation der Naturwissenschaften scheinbar tatsächlich mit den in der Hegelschen Wesenslogik entwickelten Denkformen auskommt (was aber z.B. Renate Wahsner aus der ehemaligen DDR bereits nachdrücklich widerlegte), während eine angemessene marxistische Theorie der Gesellschaft eindeutig überhaupt nicht ohne die in der Begriffslogik entwickelten Denkformen möglich ist (wie in der Arbeitsgruppe um Camilla Warnke - leider nur bis in den Anfang der 80er Jahre hinein - untersucht wurde).

Diese Kritiken widerlegen jedoch - wie für DialektikerInnen leicht einsehbar - nicht die meisten Einsichten des Buches, sondern fordern zu weiterer eigener Arbeit heraus, die wir leisten sollten. Das Buch "Aufstand der Vernunft" kann durchaus Begeisterung und Interesse wecken. Es kann deshalb zur Auffrischung und Erweiterung des naturwissenschaftlichen Horizonts dienen und Menschen, die bisher noch keine Alternative zu eher mystifizierenden Interpretation kannten, ein Tor in eine andere Welt öffnen, die für sie noch viel eigenes Engagement ermöglicht. Die Herausgeber der deutschsprachigen Ausgabe fordern nachdrücklich dazu auf, entgegen den Mechanismen des kapitalistischen Buchmarkts Debatten über die Inhalte des Buchs zu organisieren und bei Interesse Diskussionensgruppen zu bilden.


Literatur zu den angesprochenen neueren Erkenntnissen:

  • Röseberg, Ulrich (1975): Determinismus und Physik. Berlin: Akademie-Verlag.
    Röseberg, Ulrich (1978): Quantenmechanik und Philosophie. Berlin: Akademie-Verlag.
    Röseberg, Ulrich (1984): Szenarium einer Revolution. Nichtrelativistische Quantenmechanik und philosophische Widerspruchsproblematik. Berlin: Akademieverlag.
  • Hörz, Herbert (1976): Marxistische Philosophie und Naturwissenschaften. Berlin: Akademie-Verlag.
    Hörz, Herbert (1980) Zufall - eine philosophische Untersuchung, Berlin: Akademie-Verlag.
    Hörz, Herbert (1988): Wissenschaft als Prozeß. Grundlagen einer dialektischen Theorie der Wissenschaftsentwicklung. Berlin: Akademie-Verlag.
    Hörz, Herbert, Wessel, Karl-Friedrich (1983): Philosophische Entwicklungstheorie. Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften.
  • Borzeszkowski, Horst-Heino von; Wahsner, Renate (1980): Newton und Voltaire. Zur Begründung und Interpretation der klassischen Mechanik. Berlin: Akademie-Verlag.
    Wahsner, Renate (1981): Das Aktive und das Passive. Zur erkenntnistheoretischen Begründung der Physik durch den Atomismus - dargestellt an Newton und Kant. Berlin: Akademie-Verlag 1981.
    Wahsner, Renate (1998): Bibliothek dialektischer Grundbegriffe. Naturwissenschaft. Bielefeld: Aisthesis-Verlag.
    Wahsner, Renate; Borzeszkowski, Horst-Heino von (1992): Die Wirklichkeit der Physik. Studien zu Idealität und Realität in einer messenden Wissenschaft. Frankfurt am Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien: Verlag Peter Lang.
  • Warnke Camilla (1977): Gesellschaftsdialektik und Systemtheorie der Gesellschaft im Lichte der Kategorien der Erscheinung und des Wesens. In: Heidtmann, B., Richter, C., Schnauß, G., Warnke, C., Marxistische Gesellschaftsdialektik oder "Systemtheorie der Gesellschaft"? Berlin: Akademie-Verlag, S. 25-68.

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