Das Problem des Allgemeinen

Die Herausforderungen *

Allgemeines ohne Totalisierung *

Das nicht geschlossene System *

Auf der Suche nach dem gesellschaftlichen Allgemeinen als "Für-einander-sein" *

Gesellschaftliches "Füreinandersein" - Selbstentfaltungsgesellschaft *

Literatur *

Die Herausforderungen

Mehrere Themenstellungen, mit denen ich mich schon längere Zeit beschäftige, haben als ihren Kern die Fragestellung, was Allgemeines und Systemhaftigkeit darstellen.

Das erste Thema ist die Herausforderung der Philosophie durch die Systemtheorie. Systemtheorien erfassen Allgemeines als "geordnete Gesamtheit" (Liebscher 1996, S. 860) bzw. als "Mengen von Elementen und zwischen ihnen bestehender Relationen" (Steinbacher 1999, S. 1579). Es gibt Bestrebungen, dem Allgemeinen der Philosophie dieses systemtheoretische Allgemeine als zeitgemäßer und dem (post)modernen Denken angemessener gegenüber zu stellen.

Das zweite Thema betrifft die Herausforderung der Dialektik durch die Selbstorganisationstheorien. Dialektische Philosophie im Hegelschen System begreift es geradezu als ihren Vorzug, das Zufällige als inhaltlich Leeres, obgleich es als in der realen Notwendigkeit enthalten verstanden wird (HW 6,213), möglichst auszuschalten.

Die Zufälligkeit muß man mit dem Eintritt in die Philosophie aufgeben. (HW 18, 55)

Mit der Frage der Offenheit, bzw. Geschlossenheit des systematischen Denkens ist auch die eminent wichtige Frage der Herausforderung der systematischen Philosophie durch den Totalitarismus-Vorwurf (Adorno, Popper...) verbunden. Diese Frage soll hier nicht explizit diskutiert werden, sondern es sollen die sachlichen Grundlagen dafür bereit gestellt werden.

Allgemeines ohne Totalisierung

Dass Einzelnes im Allgemeinen nicht unbedingt seine Spezifik aufgeben muss, dass es nicht nur subsumiert, sondern gerade in seinen besonderen Qualitäten benötigt wird, ist oft nicht bekannt. Das hängt damit zusammen, dass die verschiedenen Formen des Allgemeinen nicht unterschieden werden. Neben dem einzelwissenschaftlich Allgemeinen sind hier wesenslogisch gefaßtes Allgemeines (abstrakt-Allgemeines) und begriffslogisch Allgemeines (konkret-Allgemeines) zu unterscheiden.

Für das begriffslogische konkret-Allgemeine gilt, dass die oben genannten Totalitarismusvorwürfe nicht zutreffen.

Zwar spricht Hegel von einem "System" und davon, dass dieses System "wahr" sei – aber dies gilt nur, wenn es sich als Einheit von Produkt und Prozess, also nicht als Erstarrtes, Fertiges zeigt. Diese Einheit läßt sich nicht auftrennen in: "Hie Produkt – da Prozess" oder "Hie Momente – da verbindende Beziehung zwischen ihnen", sondern jedes Moment ist selbst eine sich entwickelnde Totalität und jede Totalität ist die Einheit von Momenten, von denen jede die jeweils anderen enthält. Letztlich können wir die unerschöpfliche Welt wohl niemals vollständig erfassen – jedoch ist es uns möglich, Momente von ihr jeweils als Totalität, d.h. – etwas vereinfacht – als umfassenden Entwicklungszusammenhang, zu begreifen. Dazu brauchen wir als Ausgangspunkt das abstrakt-Allgemeine, also unterschiedene Teile des Ganzen. Zur begriffenen Einheit dieses Ganzen kommen wir dann aber erst, wenn wir aus diesem abstrakt-Allgemeinen das jeweils Besondere entwickeln und aus deren Zusammenhängen das konkret-Allgemeine erkennen.

Erkennen heißt nun nichts anderes, als einen Gegenstand nach seinem bestimmten Inhalte zu wissen. Bestimmter Inhalt aber enthält mannigfaltigen Zusammenhang in ihm selbst und begründet Zusammenhang mit vielen anderen Gegenständen. (HW 8,123)

Das System ist demnach nicht eine Summe von Dingen oder nur von den Beziehungen zwischen ihnen, bzw. es ist nicht nur das sich Bewegende, sondern auch das Bewegte, das Produkt gemeinsam mit dem Produzierenden. Hegels System ist also nicht statisch. Aber das, was es produzieren kann, seine Möglichkeiten, sind stets schon vorher bestimmt, es wird "dem Inhalt nach nichts Neues gesetzt" (HW 8,309).

Da unser Erkenntnisinteresse aber auch in die Zukunft ausgreift, ist es durchaus nicht uninteressant, ob zukünftige Entwicklungsprozesse in ihren Möglichkeiten vorherbestimmt sind. Soweit ich weiß, wird diese Meinung nicht mehr wirklich ernsthaft vertreten. Im Gegenteil: alle schwärmen von den offenen Zukünften, den exisistierenden Möglichkeiten und neu entstehenden. Läßt sich diese Offenheit noch systematisch begreifen? Verlieren Systembegriffe dadurch ihre Rechtfertigung? Die Frage entsteht, ob ein entwicklungsoffenes System denkbar ist.

Fände man einen Weg, Entwicklung so zu konzipieren, daß sie die Produktion neuer Möglichkeiten denkbar macht, so ließe sich ein Begriff von einem System, das geschlossen, aber nicht abgeschlossen ist, konsistent fassen. (Wahsner 1999, S. 48)

Solch ein System "muß so begründet sein, daß es eine solche Neubildung von Prinzipien nicht nur zuläßt, sondern geradezu fordert" (Wahsner 1999, S. 48).

Das nicht geschlossene System

Ernst Bloch stellte sich der Aufgabe, ein "offenes System" (EM, S. 28) zu denken.

Nichts darf verdammt übersichtlich sein, oder es ist mittelmäßig falsch. Ordnung muß sein, doch auch hier nur um des Freien willen, um dessentwillen sie da ist, also auch unterbrechend. (Bloch EM, S. 28-29).

Das Totum, worin alles wirklich in Ordnung, das heißt nicht der Ordnung an sich , sondern in Ordnung der Freiheit wäre, kann derart nur als Experimentum gedacht werden... (ebd., S. 143).

In seinem Werk "Experimentum Mundi" versuchte er, die "kategorialen Grundzüge eines offenen Systems darzustellen" (ebd., S. 30). Der Fortgang der kategorialen Entwicklung ist nicht nur ein Auswickeln eines schon Vorhandenen, sondern mit der Urteilsform "S ist noch nicht P" (ebd., S. 41) gibt er dem Möglichen einen neuen Raum, der nicht ins Beliebige verläuft, sondern durchaus durch eine "Invariante der Richtung" (ebd., S. 30) gehalten wird. "Der Sinn dieser Welt liegt selber noch in keinerlei Vorhandenheit" (ebd., S. 31), die Welt ist unterwegs als "eine utopisch gerichtete, jedoch als dauernd im Unterwegs vermittelt(e) [...] Invariante der konkreten Utopie" (ebd.). Schon in den früheren Schriften war die zentrale Kategorie bei Bloch die der Möglichkeit.

Es bleibt in menschlicher Geschichte wie in außermenschlicher Natur das Meer weiterer, offener Möglichkeit, gerade als erst partiale Bedingtheit für Verwirklichung, offen in Tendenz und Latenz. (Bloch, EM, S. 129)

Damit weicht Bloch von Hegel ab, für den die Möglichkeit nur abstraktes Moment der Wirklichkeit war. Während für Hegel jede reale Möglichkeit letztlich zur Notwendigkeit wird und sich "übler Wille und die Trägheit" (HW 8, S. 283) hinter der Kategorie der Möglichkeit verstecken, anerkennt Bloch eine partiale Bedingtheit auch im Realen – er verzeitlicht quasi die bei Hegel logische Verschachtelung des Enthaltenseins von Möglichkeit in Wirklichkeit. Die jeweils materielle Vermittlung sichert, daß auch "ein Offenes durchaus nicht beliebig" (Bloch, SO, S. 172) ist. "Auch das Kannsein ist gesetzlich" (ebd.). Das Mögliche ist deshalb nichts schlechthin Beliebiges, sondern mit der Wirklichkeit vermittelt. Die entstehende Variabilität ist keine "äußerliche sondern gesetzmäßig-sachhaft vermittelte Variabilität" (Bloch EM, S. S. 270) und "geordnete Entwicklungsfülle der offenen Welt".

Das Mögliche ist die Voraussetzung für eine weitere wesentliche Kategorie bei Bloch: das Novum (vgl. EM, S. 141). Bei Hegel bringt die bestimmte Negation den Prozess voran (HW 3, 62), Bloch dagegen bricht eine Lanze für die unbestimmte Negation. (Bloch, EM, S. 42). Das Neue ist nicht nur auswickelbar, sondern "noch nicht" bestimmt. Für Materie, die eine solche Form von Möglichkeit enthält, gibt es zwei Verhältnisse zum Möglichen: Sie ist in jedem Moment "nach Möglichkeit" bestimmt und ist weiterhin fruchtbar "in Möglichkeit" (EM, S. 229).

Diese Offenheit sieht Bloch nicht nur in der Geschichte am Werk, sondern auch in der Natur hält nicht nur ein Gesetzmäßiges das sich Wiederholende fest, sondern ebenso halten Tendenzen "den Platz offen für das Novum" (EM, S. 146). Natur ist "gleichfalls ein prozeßhaftes, ja besonders unerledigtes und unfertiges Feld" (EM, S. 218). Menschliche Praxis kann die Naturmöglichkeiten entbinden, sie "verwendet die Wurzel der Dinge mitwirkend" (Bloch PH, S. 805). Eine neue Art Technik, die Allianz-Technik ermöglicht dann eine "Entbindung und Vermittlung der im Schoß der Natur schlummernden Schöpfungen" (ebd., S. 813). In unserem Umkreis ist uns nichts einfach gegeben, "alles darin ist uns aufgegeben" (EM, S. 172).

Für das menschliche Erkennen bedeutet diese neue Vorstellung von Möglichkeit, nicht erkennend "abzubilden", sondern erkennend fortzubilden (Bloch EM, S. 60). Im Produkt wird das Produzierende mit berücksichtigt. Erkennen ist "informierende Mitwissenheit mit dem Gang der objektiven Realität [...] objektiv-reale[s] Fortbilden" (ebd., S. 242). In der Erkenntnis sieht das erkennende Subjekt (hier bezogen auf die Gesellschaft) "wie schlecht die Dinge sind, wie gut sie sein könnten, und leitet so an, sie mitbildend zu verändern" (Bloch, zit. in Bloch EM, S. 63). Das Erkennen richtet sich hier auf "die utopiehaltige Latenz in der Welt" – und dies meint Bloch nicht nur in Bezug auf die Gesellschaft, sondern auch die "fortbildende Erkenntnis", das "begreifende Eingreifen" (ebd., S. 78).

Auf der Suche nach dem gesellschaftlichen Allgemeinen als "Für-einander-sein"

Ernst Bloch suchte auch nach einem neuen Inhalt für jene Kategorien, die die Gesellschaftlichkeit der Menschen erfassen. Er vermutete, dass die Relationen: Egoismus-Altruisums, Individuum-Kollektiv für jene neuen Inhalte in einer klassenlosen Gesellschaft nicht mehr zutreffend seien.

Statt der alten Dualismen kündet sich vielmehr ein Drittes an, eine Existenzweise, die, wenn sie nicht mehr die Einheit der Person enthält, so auch nicht mehr das alldeduzierende Fixum eines geschlossenen Kollektivs. Der Selbsterhaltungs-, Selbsterweiterungs-, Selbstbegegnungstrieb, weit davon entfernt, nur individualistisch oder ein Produkt des privatwirtschaftlichen Zeitalters zu sein, präformiert allemal auch hier ein Erweiterndes in dem überlegenen Begriff des menschlichen Selberseins. Das Selbst meint das Ich, aber es meint auch das Wir, und es meint mehr als beides, eben ein menschliches Identischwerden. (Bloch, EM, S. 194-195)

Betrachten wir uns hierzu folgende Abbildung (aus Fuchs 2002):

W. Hofkirchner beschreibt diese Darstellung folgendermaßen:

Auf der Mikroebene befinden sich die Elemente des sozialen Systems, nämlich die sozialen Akteure. Sie setzen Handlungen, und durch das Zusammenspiel ihrer individuellen Handlungen etablieren sie stabile Beziehungen untereinander, die in Form von Regeln, das sind Werte, und in Form von Regelmäßigkeiten, die allokative oder/und autoritative Ressourcen betreffen, eine relative Unabhängigkeit von den Interaktionen gewinnen. So emergieren soziale Strukturen auf der Makroebene, die ihrerseits wieder die Akteure beeinflussen. Auf der einen Seite schränken sie die Handlungsmöglichkeiten der Akteure ein, indem sie Rahmenbedingungen darstellen, auf der anderen Seite stellen sie den Akteuren gerade durch die Herstellung von Rahmenbedingungen Möglichkeiten zum Handeln zur Verfügung, die sie sonst nicht hätten. Diese sozialen Strukturen sind aber keine direkten Verursacher. Sie können nicht eindeutig bestimmen, ob und welche Option von den Akteuren wahrgenommen werden wird. (Hofkirchner 2002)

Wir finden hier jene Merkmale, die Renate Wahsner auch für einen neuen Begriff des gesellschaftlichen Allgemeinen fordert. Das Ganze ist ein "Verhältnis", in dem "etwas Neues im Vergleich zu dem, was im Verhältnis zueinander steht" (Wahsner 1999, S. 59). Dieses Neue ist das "Produkt des gegenseitigen Verhaltens oder Wirkens". Sie betont, dass dieses Verhalten als gegenständliches Verhalten erfasst werden muss, wobei die Spezifik des Menschlichen gegenüber auch tierischen sozialen Beziehungen darin besteht, "daß jede Generation ihre Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstände in einer bestimmten Verfaßtheit zuerst einmal vorfindet und ihr so die vorangegangene gesellschaftliche Erfahrung und Erkenntnis tradiert wird" (ebd., S. 58). Wir erhalten eine neue Form von Allgemeinem als "Einheit von Gegenstand und Verhalten" (ebd., S. 56), ein Ganzes, "das durch das Verhalten der Individuen produziert wird und das zugleich die Entwicklungsbedingung für die Individuen ist" (ebd., S. 55). Wie auch schon C. Warnke bemerkte, wird die Trennung von Gegenstand und Verhalten erst aufgehoben in einer "über das Verhalten mit sich vermittelten Gegenständlichkeit" (Warnke 1977/1981, S. 171).

Wir können uns das Ganze also nicht als aneinandergefügte Kausalität in zwei Richtungen nacheinander vorstellen. Jedes der unterscheidbaren Momente (das Individuum - die Gesellschaft, die Verhältnisse – die Struktur) sind nicht wirklich nacheinander zuerst nur sie selbst "an sich" (in ihrer sich selbst genügenden Identität) und danach, bzw. gegenläufig- der ersten Bestimmung gegensätzlich, "für andere" – sondern alle Momente sind "füreinander" (Hess 1845/1980, S. 390). Mit diesem "Für-einander-Sein" prägte Hess einen weiteren Begriff für das bei Hegel noch nicht gegenständlich gefasste "an-und-für-sich-Sein", bzw. darüber hinaus. Bei Cieskowski wird die Kategorie des "Aus-Sich" als "Hervorbingen aus sich selbst, ohne sich jedoch selbst zu entfremden" (Cieszkowski 1838/1961, S. 116) angedacht. Erst in diesem Herausbringen wird das "wodurch eben das Denken zum wirklich thätigen und selbstthätigen wird" (ebd., S. 116) und Selbsttun wird als dritte Hauptform des Denkens neben Selbstsein und Selbstdenken begriffen (ebd.). Cieszkowski begründet damit die Philosophie der Praxis (ebd. S. 129).

Moses Heß entwickelte den Gedanken des Füreinandersein der Menschen (Heß 1845/1980, S. 389) gegen Max Stirners isolierten Egoismus in dessen Schrift "Der Einzige und sein Eigentum" und er betonte:

Eigenthum des Einzelnen [ist] die Gesammtheit seiner verwirklichten Eigenschaften. So wie aber die menschlichen Eigenschaften erst dann wirklich unser allgemeines Eigenthum sind, wenn sie durch sociale Erziehung ausgebildet worden sind, so wird das Eigenthum des Einzelnen erst dann verwirklicht, sein wirkliches Eigenthum, wenn er seine, durch eine sociale Erziehung ausgebildeten, Eigenschaften im socialen Leben auswirken, bethätigen kann. (Heß 1845/1980, S. 390)

Gesellschaftliches "Füreinandersein" - Selbstentfaltungsgesellschaft

Die eben genannten Kategorien beschreiben immer noch sehr abstrakt, worauf sie hinauswollen. Abstrahieren wir von der Gegenständlichkeit und der Produktivitätsorientierung, gelten sie sogar für soziale Beziehungen im Tierreich und – wie R. Wahsner zeigt – sogar für das gegenständliche Verhältnis physischer Körper (Wahsner 1999, S. 52). Der Übergang zum begriffslogischen Denken erfordert eine Historisierung und Konkretisierung der Kategorien. Wenn sogar physische Wechselwirkungen eine Form des "Füreinanderseins" darstellen, wodurch unterscheiden sich von diesen die gesellschaftlichen? Wir erwähnten die produktive Auseinandersetzung mit der Natur, die Arbeit. Hier wird konkretisiert, was Gegenstand und Produktion in diesem Füreinander der Menschen bedeutet. Innerhalb der Menchheitsgeschichte suchen wir nun weiter nach einer Form dieses Füreinanders, das sich nicht mehr über persönliche oder ökonomische Machtbeziehungen herstellt.

Wir suchen eine "Ordnung der Freiheit menschlicher Würde, aufrechten Gangs, damit er Raum hat" (Bloch, EM, S. 196), Raum für seine eigene Entwicklung, die so mit der Entwicklung der Gesellschaft verflochten ist, dass es zu keinem Gegeneinander dieser beiden Tendenzen kommt. In der aktuell-politischen Theoriediskussion wurde dafür die Bezeichnung "Selbstentfaltungs-Gesellschaft" geprägt. Unter Selbstentfaltung verstehen wir die individuelle und unbeschränkte Entfaltung der eigenen Subjektivität (vgl. Meretz, Schlemm 2001, S. 46; Meretz 2000, S. 54), die nur möglich ist, wenn sich auch alle anderen Menschen selbst entfalten können. Jede individuelle Entwicklung auf Kosten anderer ist keine wirkliche Selbstentfaltung, sondern eine Einschränkung spezifisch menschlicher Möglichkeiten ( vgl. Bergstedt, Meretz, Schlemm 2000a, S. 25, 36). Diese Sichtweise unterstellt, "daß wir vereinzelt Nichts, daß wir nur Etwas werden durch die gesellschaftliche Vereinigung mit unseren Nebenmenschen" (Heß 1845/1980, S. 382). Dies gilt für jede Gesellschaftsform. Bisher jedoch mußte und muß das nur gering mögliche Maß an Selbstentfaltung stets gegen die Funktionsweise der gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, die eine eigene Entwicklung nur auf Kosten anderer ermöglichten, abgetrotzt werden. Wir streben nun eine Gesellschaft an, die strukturell auf der individuellen Selbstentfaltung der Individuen beruht. Das klingt sehr abstrakt – für einen einzelnen Menschen kann das beispielsweise heißen:

Ich möchte einfach eine Welt, in der die Menschen sich nicht gegenseitig benötigen, in der sie einfach durch das, was sie tun und alles lassen, für sich tun und lassen, gleichzeitig auch das Beste für alle anderen ist. (Rudolph 1998, S. 78).

Allerdings können wir diese Gesellschaft nicht nur theoretisch in unseren Köpfen aushecken.

Alle diese Versuche, den Unterschied zwischen den einzelnen Menschen und der Menschengattung theoretisch aufzuheben, mißlangen deshalb, weil der einzelne Mensch, wenn er auch Welt und Menschheit, Natur und Geschichte erkennt, in der Wirklichkeit doch nur vereinzelter Mensch ist und bleibt, so lange die Vereinzelung der Menschen nicht praktisch aufgehoben wird. (Heß 1845/1980, S. 381)

Wir haben das Glück, bereits die Anfänge der praktischen Aufhebung zu erleben – obwohl dies von VertreterInnen linker politischer Konzepte oft noch gar nicht als solche wahrgenommen wird. Ich meine jetzt nicht primär die beispielsweise globalisierungskritischen politischen Bewegungen, sondern sich in Nischen der kapitalistischen Produktion ausprobierenden neue Produktionsweisen. Der Prototyp für solche neuen Produktionsweisen ist die Art und Weise der Produktion sogenannter "Freier Software". Die Herstellung Freier Software ist nicht marktgesteuert, die Produzenten sind nicht vereinzelte Hersteller von Waren für andere – sondern diese Produktion erfolgt direkt bedürfnisgesteuert und geschieht trotzdem in komplex vernetzten arbeitsteiligen Prozessen. Die "Freiheit" der Freien Software meint nicht Kostenlosigkeit, sondern die Freiheit des Quelltextes der entsprechenden Software. Geregelt ist diese Freiheit in einer speziellen Lizenz, der General Public License (GPL), die im Gegensatz zum Copyright auch "Copyleft" genannt wird. Diese spezielle Lizenz umfaßt folgende Punkte:

  • das Recht zur freien Benutzung des Programms
  • das Recht, Kopien des Programms zu erstellen und zu verbreiten,
  • das Recht, das Programm zu modifizieren,
  • das Recht, modifizerte Versionen zu verteilen.

Diese Prinzipien regeln in diesem konkreten Fall, dass diese Produktion nicht der kapitalistischer Verwertung unterliegt, wir haben also eine "Nische", in der die kapitalistischen gesellschaftlichen Gesetze ausgehebelt sind. Trotzdem entwickelt sich in dieser "Nische" eine hochkomplexe Produktionsform – eine alternative Vergesellschaftungsform kann ausprobiert werden. Wir haben hier einen Prototyp einer Selbstentfaltungs-Produktionsweise. Zu Beginn funktionierte die Produktion der Freien Software noch in üblicher Weise - also zentralistisch gesteuert und "wie der Bau einer Kathedrale" organisiert. Viele Jahre gelang es jedoch nicht, den wichtigen Kernel für das erste wichtige freie Softwaresystem zu entwickeln. Das änderte sich erst, als Linus Torvalds 1991 dieses Vorgehen radikal änderte. Torvalds weigerte sich, wie bisher in einem kleinen eingeschworenen Team "die Kontrolle behalten" zu wollen - sondern stellte einfach seine Zwischenergebnisse beim Programmieren öffentlich ins Internet und forderte zur Fehlersuche und Mitarbeit auf. Manche fürchteten, die Koordination dieser Arbeitsweise würde so schwer werden wie "Katzen hüten". Es zeigte sich aber bald, daß diese Organisationsform der internetbasierten selbstorganisierten Kooperation die Leistungsfähigkeit der früheren starren "Kathedralen-"Organisation weit übertrifft. Eher "wie auf einem Basar" (Raymond 1999) werden Informationen geteilt, mit Innovationen angereichert, weiter verteilt usw.

Maintainer, einzelne Personen oder Gruppen, übernehmen die Verantwortung für die Koordination eines Projektes. Projektmitglieder steigen ein und wieder aus, entwickeln und debuggen Code und diskutieren die Entwicklungsrichtung. Es gibt keine Vorgaben, wie etwas zu laufen hat, und folglich gibt es auch verschiedene Regeln und Vorgehensweisen in den freien Softwareprojekten. Dennoch finden alle selbstorganisiert ihre Form, die Form, die ihren selbst gesetzten Zielen angemessen ist [...] Ausgangspunkt sind die eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Vorstellungen - das ist bedeutsam, wenn man freie und kommerzielle Softwareprojekte vergleicht. (Meretz 2000b).

Es zeigt sich, daß diese, aus eigenen Bedürfnissen, der Fähigkeit zur individuellen Selbstentfaltung und kooperativen Selbstorganisation gespeiste Produktionsweise um ein vielfaches befriedigender, aber auch effektiver ist und zu qualitativ besseren Produkten führt.

Dies bezieht sich vorerst natürlich "nur" auf die Softwareszene - im Bereich der Produktion von Hardware im weitesten Sinne, also materieller Güterproduktion ergeben sich noch zusätzliche Hürden, die mit den Eigentumsverhältnissen an materiellen Produktionsgrundlagen und -mitteln zu tun haben. Die "Nische" befindet sich jedoch an einer wesentlichen Stelle innerhalb der gesellschaftlichen Produktion: Es geht nicht mehr nur um selbstbestimmte Arbeit in Landwirtschaftskommunen und handwerklichen Genossenschaften – es geht um Selbstentfaltungs-Arbeit, wobei Selbstentfaltung nicht mit Produktivitätsverlust erkauft werden muss. Und solange in der kapitalistischen Wirtschaft noch versucht wird, Wachstum über Produktivitätssteigerung (statt reiner Plünderung) zu erreichen, versuchen deren neueren Managementkonzepte nicht zufällig gerade jene menschlichen Potenzen, die mit den Selbstentfaltungsbedürfnissen zusammenhängen, anzuzapfen. Allerdings bleibt hier der Widerspruch zwischen den Selbstentfaltungsbedürfnissen und dem Zwang zur Verwertung unter dem Diktat der Profiterwirtschaftung ungelöst (vgl. Schlemm 1999b). In den Freien Softwareprojekten zeigt sich auf jeden Fall die Möglichkeit eines neuartigen Typs von Wirtschafts- und Lebensweisen auf der Grundlage hochentwickelter Produktivkräfte, wobei deren Entwicklungsquelle die Selbstentfaltung der Individuen ist.

Während ich mich strukturell in unserer Gesellschaft stets nur behaupten kann, wenn ich mich auf Kosten anderer durchsetze - ob ich dies will oder nicht -, ist in der freien Softwarebewegung strukturell das Gegenteil der Fall: Ich kann mit meinem Projekt - egal, ob als Maintainer oder einfaches Projektmitglied - nur erfolgreich sein, wenn die anderen im Projekt ihre Interessen entfalten können. (Meretz 2000c)

 


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