Warum mußte Sokrates sterben?

Sokrates wurde geboren 468 v.u.Z.. Sein Vater war Steinmetz, er erlebt Perikles, den Peleponnesisichen Krieg (als Teilnehmer). Als er 40 Jahre alt war, starb Perikles und Athen versank in Wirren. "Ein Alter - um Philosoph zu werden." (Sautet, S. 281)

"Das einzige, was ihn auszeichnete war, daß er sich über sein eigenes Wissen keiner Täuschung hingab." (Sautet, S. 278)

Er fragte sich, warum die Welt nicht den schönen Wirbel-Ordnungsvorstellungen des Anaxagors entspricht. Warum die Kriege zwischen den griechischen Städten...

"Er mußte herausfinden, was schiefging, was seine Mitbürger in die falsche Richtung trieb." (Sautet, S. 283)

Die Diskussionen in den Vollversammlungen des Demos (aller 12 Tage) fand noch auf der Grundlage öffentlich nicht hinterfragter Einverständnisse, Überlieferungen und Sittlichkeitsvorstellungen statt. Rhetorik und Verführungskraft dominierten. Die Argumente brauchten für ihre Wahrheit nicht selbst einstehen.

Sokrates dagegen forderte: "man muß an allem zweifeln, man muß alle Voraussetzungen aufgeben, um es als durch den Begriff Erzeugtes wiederzuerhalten." (nach Hegel, S. 382)
Es war für seine Mitbürger mitunter lästig:
"Du scheinst mir nicht zu wissen, was geschieht, wenn jemand dem Sokrates ganz nahe ist und sich mit ihm auf ein Gespräch einläßt; auch wenn er sich zunächst über irgend etwas anderes unterhält, wird er notgedrungen und unaufhörlich von jenem durch Reden umhergeführt, bis er dahin geraten ist, daß er sich selber Rechenschaft darüber gibt, wie er jetzt lebt und wie er sein bisheriges Leben gelebt hat." (Feldherr Nikias nach Platon, zit. in Weischedel, S. 32).

Sokratisches Philosophieren

Seine berühmte Art und Weise der Gesprächsführung beruht darauf, daß er scheinbare Sicherheiten aushebelt, indem er die geäußerten Meinungen in innere Widersprüche verwickelt. Er zeigt, daß die "Meinungen" auf unsicheren Argumenten, auf nicht hinterfragten Voraussetzungen führen.
Er fragte z.B. "Was ist Gerechtigkeit?". Er zeigt dann an Beispielen seines Diskussionspartners auf, daß es z.B. eindeutig ungerecht ist, zu rauben, zu lügen und zu betrügen - daß es aber unter anderen Umständen (z.B. wenn es gegen äußere Feinde geht), durchaus gerecht sein kann. Es zeigt sich - und das arbeitet besonders Hegel in der Auswertung heraus - daß solche
allgemeinen Begriffe, wie Gerechtigkeit, nicht praktisch anwendbar sind, sondern es immer wichtig ist, die konkreten Bedingungen und Voraussetzungen zu hinterfragen.
(Nebenbei: Die Unterscheidung von abstrakt-Allgemeinem und konkret-Allgemeinem gehört noch längst nicht zum selbstverständlichen Handwerkszeug philosophierender Menschen...)

Warum wurde Sokrates verurteilt?

Sokrates setzte durch sein Hinterfragen der Bedingungen voraus"... daß die geltenden Gesetze in der Form, wie sie dem einsichtslosen Bewußtsein gelten, keine Wahrheit haben." (Hegel, S. 390). Es soll eine höhere Form der Moralität/Sittlichkeit gefunden werden, die durch die Vernunft begründet wird - dabei wird die frühere "aufgehoben" (typische Dialektik!). Das verunsicherte die Griechen. Sie gingen aber den Weg ins vernünftige Nachdenken nicht mit. Das Aufheben des Früheren wird Sokrates vorgeworfen.
Er wird bereits in dem Stück "Wolken" von Aristophanes sehr negativ dargestellt. Der läßt Sokrates dabei in einer Hängematte hoch über der Wirklichkeit schweben - die typische Karikatur für "abgehobene" Philosophen. Tatsächlich stört Sokrates´ Fragerei ja im Alltag der Griechen.
Er macht das wankend, was der Vorstellung sonst fest war (Hegel, S. 393). Dadurch trägt er dazu bei "die Demokratie zu destabilisieren, indem er seine Mitbürger belästigte, zu einer Zeit, als Athen besonders verwundbar war." (Sautet, S. 281). "Aristophanes zufolge verdiente Sokrates den Tadel, weil er die Kunst lehrte, Verpflichtungen nicht einzuhalten." (Sautet, S. 280)

Tatsächlich - dies hat er getan. Aus der Sicht der sittenbewußten Griechen ist die Anklage gegenüber Sokrates also durchaus berechtigt. Auch Hegel betont: ER IST SO MIT RECHT ANGEKLAGT! (S. 407). Wenn man Sokrates nur bedauern und in Schutz nehmen wollte gegenüber der "Sklavenhalterdemokratie" (wie bspw. Irmscher), würde man die Bedingungen der Situation zu wenig verstehen - und damit eine Forderung von Sokrates mißachten.

In der Verurteilung des Sokrates liegt aber noch eine wichtige Komponente, die meist übersehen wird. Es ist bekannt, daß er Fluchtmöglichkeiten aus dem Gefängnis ablehnte. Aber er hat noch mehr getan. Man muß wissen, daß Gerichtsverfahren in der griechischen Demokratie aus zwei Teilen bestehen. Im ersten Teil wird durch die ca. 500 Geschworenen über Schuld und Unschuld befunden (wie im britischen und amerikanischen Recht). Danach wird über die Strafe entschieden - in Griechenland durch den Beschuldigten selbst, keinen Richter!
Die Anklage hatte den Inhalt: "daß Sokrates die nicht für Götter halte, welche das atheniensische Volk dafür halte" und "neue einführe" und "die Jugend verführe". (Pagès, S. 32)
Sokrates war erst von lediglich 30 der 501 Geschworenen für schuldig erkannt worden. Er hätte sich eine reicht leichte Strafe anerkennen können. Aber was tut Sokrates? Er erkennt nicht an, daß andere über sein Gewissen überhaupt richten können! Wenn er sich eine Strafe selbst zuerkannt hätte, hätte er den Schuldspruch durch das Volk anerkannt. Aber er unterwirft sich nicht "dem Volke", sondern nur seinem Gewissen (vgl. auch Irmscher, S. 92):
"Sokrates ist deswegen zum Tode verurteilt und das Urteil an ihm vollzogen worden, weil er die Majestät des Volks nicht anerkannt hat - nicht als Strafe der Vergehen, derer er schuldig befunden wurde." (Hegel, S. 419)
..."In dem Prozesse des Sokrates haben wir die zwei Seiten zu unterscheiden: die eine, den Inhalt der Anklage, die Verurteilung durchs Gericht; die andere, das Verhältnis des Sokrates zum Volke, zum Souverän." (Hegel, S. 408)
... "Sokrates ist schuldig von den Richtern in Ansehung des Inhalts seiner Anklage; aber zum Tode ist er verurteilt worden, weil er die Kompetenz des Volkes, die Majestät desselben über einen Angeklagten anzuerkennen sich weigerte.(Hegel, S. 408)
...Sokrates erkennt nur Tribunal seines Gewissens an. "Seine Weigerung, dem Volke seine Unterwürfigkeit gegen dessen Macht zu bezeigen, führte die Verurteilung zum Tode herbei." (Hegel, S. 418)

Damit bleibt ein Problem deutlich zurück. Auch "das Volk" und seine Demokratie können nicht allmächtig sein! Auch Hegel betont: "Diese elende Freiheit, zu denken und zu meinen, was jeder will, findet nicht statt;..." (Hegel, S. 419) Diese Art Freiheit reicht noch nicht aus.

Damit hat die Geschichte Sokrates einen tragische Charakter. Der besteht darin, daß ein Recht gegen ein anderes auftritt, beide sind - für sich gesehen - im Recht, wirken aber entgegengesetzt... Nur die Aufhebung beider - in einer höheren Einheit - meist erst durch die Nachfahren - kann diesen Zusammenhang deutlich sehen und einseitige Stellungnahmen verhindern.

 

Literatur:
Eichler, K.D., Seidel, H., Philosophie im antiken Griechenland, in: Moritz , R. (Hrsg.), Wie und warum entstand Philosophie in verschiedenen Regionen der Erde?, Berlin 1988, S. 125-166
Fischer, J., Sokratik und Politik, in: Krohn, D., u.a. (Hrsg.), Das Sokratische Gespräch. Ein Symposion, Hamburg 1989, S. 79-105
Hegel G., W., F., Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Band I, Leipzig 1982
Irmscher, J., Sokrates, Leipzig, 1982
Pagés, F., Frühstück bei Sokrates, Philosophen ganz privat, München 1997
Sautet, M., Ein Café für Sokrates. Philosophie für jedermann, Düsseldorf/Zürich 1999
Weischedel, W., Die philosophische Hintertreppe. Die großen Philosophen in Alltag und Denken, München 1997

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