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FANTOMAS - Magazin für linke Debatte und Praxis / Nr. 6 / Winter 04/05 Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft Ein Gespräch mit der Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim Die Arbeit der Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim (SSM) in Köln dreht sich seit eh und je um die Prekarität des Lebens und Überlebens unter kapitalistischen Bedingungen. Die SSM ist eine politische Gruppe, ein Wohn- und Lebenszusammenhang - und eine Firma mit Sitz in einer alten Fabrik, die 1979 besetzt, dreizehn Jahren später legalisiert wurde. Alles, was das Kollektiv tut, gilt seinen SozialistInnen als "Arbeitö: Umzüge fahren, Möbel restaurieren und verkaufen, Flugblätter schreiben, Häuser (instand-)besetzen, Essen kochen, Kinder betreuen, die Diskussionen auf dem täglichen Plenum. Wie das seit 1969 zusammengeht, darüber sprach Fantômas mit Sven Loeffler, Rainer Kippe, Thomas Könermann, Ranne Michels und Heinz Weinhausen. Fantômas: Bei einem linksradikalen Projekt, das schon 35 Jahre auf dem Buckel hat, zielt die erste Frage natürlich auf diese außergewöhnliche Geschichte selbst - wie geht so was?
Rainer: Die Geschichte der SSM fängt mit der Studentenbewegung an, mit dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und seiner "Heimkampagne". Aus der entstand 1969 eine Gruppe, die sich "Sozialpädagogische Sondermaßnahme Köln" (SSK) nannte und in mehreren Häusern Wohngemeinschaften mit jugendlichen Obdachlosen betrieb. 1974 wurden die Häuser von der Stadt geschlossen und alle Mittel gestrichen. Wir fingen dann als "Sozialistische Selbsthilfe Köln" neu an, besetzten Häuser in mehreren Stadtteilen. Dazwischen lagen die putschartige Auflösung des SDS durch seine Führungsclique, der Abmarsch all der Studierten in ihre "Arbeiterparteien", bald drauf die große Enttäuschung übers Proletariat und der Rückzug und Aufstieg in die Professur oder sonst wohin. Wie viele wart ihr damals, wie viele Häuser hattet ihr? Ranne: Das ging immer rauf und runter. Wir hatten am Salierring zwei Häuser, auf der Vorgebirgstraße eins, in Ehrenfeld zwei, in Bensberg eins, in Porz mehrere Häuser und in Waldbröl war noch eine Gruppe. Auch die Dortmunder und die Bielefelder Selbsthilfe gingen aus der SSK hervor. Anfangs, als wir Geld von der Stadt bekamen, kamen Hunderte, manchmal Tausende Jugendliche allein nach Köln; viele, die aus Heimen geflohen waren, erwerbslos waren, Drogen nahmen, tranken. Beim Start als Selbsthilfe ist die Gruppe auf zehn, fünfzehn Leute geschmolzen, dann wieder gewachsen, mehrere hundert Leute in mehreren Gruppen. Insgesamt an die zehn Gruppen, von denen heute noch die Hälfte existiert. Die Arbeit mit Heimzöglingen und Psychiatrisierten, hat sich das einfach praktisch entwickelt oder gab es die strategische Entscheidung, sich an die Ausgeschlossenen zu wenden, um eine andere Form von Politik und auch von Leben zu organisieren?
Rainer: Es war zuerst eher eine praktische Sache; die kamen und wir mussten reagieren. Aber wir standen auch dafür, wir dachten: Die Ausgeschlossenen und die prekären Lebensverhältnisse, das sind die, die Veränderungen in sich tragen. Wir haben dann Texte, auch zwei Bücher geschrieben, eins hieß "Ausschuss", das war 1970, das andere kam 1975 raus und hieß "Aufbruch". Da haben wir versucht darzustellen, wie Arbeit in der Gesellschaft anders organisiert werden kann. Wir sind vom Marxismus ausgegangen und haben uns doch vom Marxismus nicht blockieren lassen, da, wo der ganz auf die Lohnarbeit baut. Für die Dogmatiker wurden wir deshalb zu Revisionisten. Wir haben uns dann verrenken müssen, um in der Linken nicht unterzugehen, haben gesagt, dass mit den Heimen, mit der Psychiatrie auch die Arbeiterklasse bedroht wird, dass mit den Ausgeschlossenen zusammen auch die proletarischen Jugendlichen besser kämpfen können usw., wir mussten da schon die Türen offen halten. In der Chronik der SSM heißt es: "1975: Aufhebung der Unterschiede zwischen Betreuern und Betreuten. Alle sind gleichwertige Mitglieder und kämpfen als solche für eine gerechtere soziale Ordnung." Rainer: Das war und ist natürlich sehr schwierig für alle Beteiligten und hat eben mit dem politischen Selbstverständnis zu tun. Wir haben zwar viel von Emmaus gelernt, und doch ist der Unterschied der politische: Wir haben nicht Wohltaten vollbracht, sondern die Mächtigen in dieser Stadt angegriffen, haben im Kontext der Stadtsanierung ganze Straßenzüge besetzt und dabei nie nur für uns ein "Autonomes Zentrum" oder so was haben wollen. Das wirkt dann nach außen und wirkt nach innen. Es ist einfach so: Die hier sind, folgen einem Wunsch nach Freiheit, nach selbstständigem Leben. Das betrifft auch unsere Sitzungen hier, jede Woche, das ist eine Ansammlung von Querköpfen. Wir diskutieren im Konsensprinzip, nicht als Ziel, sondern weil das nicht anders geht. Und wenn man müde ist, dann sagt man, o.k., machen wirs eben so und probieren das mal. Also hier ist Kollektivismus und dahinter ein extremer Individualismus. Allerdings sind wir relativ arm, viel Geld haben wir nicht. Da muss man schon einen Preis bezahlen, anständigerweise. Hat das auch zum Bruch in der SSK geführt?
Ranne: Also das von der Spaltung her zu betrachten ist schwer, mit etwas mehr Toleranz hätten wir zusammenbleiben können. Es ging um die Selbstständigkeit der einzelnen Gruppen der SSK unter ihren lokalen Bedingungen. Wir haben 1979 hier in Mühlheim die alte Fabrik besetzt, in der wir noch heute leben und arbeiten, die wir fortlaufend ausbauen, um mehr Lebens- und Arbeitsraum zu haben. 1993 ist das endlich legalisiert worden. In der Zwischenzeit sind wir hier zu einer sozialen und politischen Kraft geworden, in enger Kooperation mit anderen, mit den Leuten im Stadtteil, mit der Verwaltung, mit der Kirche, auch mit politischen Organisationen, den Jusos, der DKP, sogar mit der CDU. Denn hier gabĘs 70% SPD, und die lokale CDU gehörte zum linken Flügel der Partei, da gabĘs gute Leute, die uns gedeckt haben. Das hat zu Auseinandersetzungen mit anderen Gruppen der SSK geführt, die haben uns dann den Namen streitig gemacht, und deshalb firmieren wir seit 1985/86 als "Sozialistische Selbsthilfe Mülheim" (SSM). Passen solche Projekte der Abfederung der Ausgeschlossenen nicht ganz gut in die aktuelle gesellschaftliche Situation? Heinz: Nee, wir setzen ja auf eine andere Lebensqualität. Deshalb ist in Verhandlungen mit der Stadt auch immer unser Punkt, dass wir zwar Unterstützung wollen - aber kein Geld, sondern Ressourcen, das Gelände der SSM zum Beispiel. Das ist ja immer noch nicht ganz sicher, da kämpfen wir jetzt noch drum. Die Frage nach der Lebensqualität ist die Leitfrage auch in der Firma. Das Besondere ist eben, dass wir nicht unbedingt mehr Umsatz haben müssen, weil wir nicht so in den Marktzwängen, nicht in dieser Wachstumsschiene sind. Wir müssen nicht die neuesten Maschinen abbezahlen, sind nicht in der Kreditfalle drin. Dadurch kommen wir über die Runden, können sogar überlegen, nehmen wir den Auftrag oder nehmen wir ihn nicht. Wir müssen nicht auf Teufel komm raus auf dem LKW sein. Der fährt fast jeden Tag, aber wir können das Team wechseln. Wir können sorgsamer miteinander umgehen. Das hängt auch mit den Behinderten zusammen, die mit uns leben und arbeiten, Freddy und Peter zum Beispiel. Wenn wir was Neues anfangen, kommt immer die Frage: "Ist das auch was für Freddy und Peter? Können die da mit?" Das kann ein Grund sein, Sachen sein zu lassen, die sich rechnen würden, die wir aber als Kollektiv nicht wollen. Was das Schwimmen im Wasser angeht, konkret ökonomisch: habt ihr eine soziale Absicherung? Heinz: Keine wirkliche. Wir haben eine günstige Krankenversicherung, aber die Rente, die wir zu erwarten haben, kannst Du nicht ernst nehmen. Wir haben aber gelernt, anders zu leben, kommen mit viel weniger Geld aus, nutzen die Sachen anders. Wir haben unseren gemeinsamen Wohn- und Arbeitsraum, und gleichzeitig hat jeder seinen eigenen Wohnraum, wir brauchen keine Kleidung zu kaufen, die SSM stellt Telefon, zusammengebastelte Computer samt Internet. Darüber hinaus erhält jeder dasselbe Geld ausgezahlt, nicht sehr viel natürlich, aber immerhin. Es geht nur so: Entweder Du bleibst hier, auch wenn Du alt bist, hast eine Grundrente, kannst hier wohnen, noch ein wenig mitmachen und lebst vergleichsweise überm Durchschnitt. Oder Du gehst hier raus und musst mit Sozialhilfe auskommen. Es gibt also eine Abhängigkeit von der Gruppe, oder? Ranne: Für mich gilt das nicht, eben weil ich hier ein reiches Leben führe und mir deshalb ein Leben außerhalb der SSM gar nicht wünsche. Bevor ich hergekommen bin, hab ich ganz normal gearbeitet, seit ich hier lebe, kann ich jeden Tag selber bestimmen - zusammen mit den Leuten hier. Es hat mich immer interessiert, eine andere Ökonomie, eine andere Politik, ein anderes Leben auf die Beine zu kriegen. Als ich Kinder kriegen wollte, konnte ich Kinder kriegen, sie sind hier aufgewachsen. Das war wunderbar. Zwischendurch haben wir Landwirtschaft gemacht. Das hat mich total interessiert. Jetzt bin ich 56, bin seit dreißig Jahren dabei und hatte immer das Gefühl, dass die SSM mit meinen Leben gewachsen ist, immer die Antwort auf meine jeweilige Lebenssituation war. Bis ins Spirituelle, das einem vielleicht wichtiger wird, wenn man älter geworden ist. Ich kann hier Yoga machen, wir haben regelmäßig einen Zen-Buddhisten zu Gast. Das hängt auch mit unserer Mischung von Kollektivismus und Individualismus zusammen. Erfahrt ihr das auch so, als Leute, die zwar hier arbeiten, doch nicht hier wohnen oder ein Praktikum absolvieren?
Thomas: Ich bin erst seit fünf Wochen dabei. Ich bin einfach vorbeigekommen und hab gefragt, ob ich mitmachen kann. Jetzt arbeite ich hier jeden Tag, wohne aber nicht auf dem Gelände. Die Miete für meine Wohnung decke ich aus einer Unfallrente, die ich wegen einer Knieverletzung beziehe. Wenn hier Räume frei werden, könnte ich mir gut vorstellen, ganz herzuziehen. Wir danken für das Gespräch, für Essen und Trinken und die Fahrt auf dem Firmen-LKW! Das Gespräch führten Erika Feyerabend und Thomas Seibert. © a.k.i Verlag für analyse, kritik und information GmbH, Rombergstr. 10, 20255 Hamburg www.akweb.de E-Mail: fantomas@akweb.de Weiterveröffentlichung in gedruckter oder elektronischer Form bedarf der schriftlichen Zustimmung von a.k.i. |
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