3.2.6 Vernunft als zweckmäßiges TunDer Übergang vom Verstand zur Vernunft zeigt sich auch an der Unterscheidung von Ursache und Zweck. Während eine Ursache dazu führt, dass etwas in ein anderes übergeht, ist der Zweck dasjenige, durch das sich etwas so verändert, dass es sich erhält (HW 8: 360). Diese Art, das Wirkliche zu betrachten, ist vor allem beim Organischen angemessen. Für Lebendes ist dasjenige zweckmäßig, was die Lebendigkeit erhält. Wie sich Organismen bewegen und entwickeln, folgt einer inneren Notwendigkeit, nicht äußeren Zwängen. Wenn wir über Zwecke sprechen, so erklären wir etwas auf Grundlage seiner Rolle als Teil eines Ganzen.
Eine noch unvollkommene Betrachtung ist die Betrachtung der Zweck-Mittel-Relation unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit. Beliebige Zwecke können mit diesen oder jenen Mitteln realisiert werden. Die Ziele sind dem Ganzen noch äußerlich. So ist das beispielsweise auch beim Bau von Häusern. Das Haus erfüllt die Wohnbedürfnisse der Menschen, die Zweckmäßigkeit liegt im Nutzen für die Menschen, nicht im Haus selbst. Die Form, die ich den dabei bearbeiteten Materialien gebe, ist keine von ihnen selbst bewirkte Gestaltung. Anders beim Organismus: bei diesem erfolgt die Formentfaltung aus einer inneren Notwendigkeit heraus. Der wahre Zweck wäre ein Allgemeines, „das sich aus seinen äußeren Relationen nur als es selbst wieder herstellt“ (Hoffmann 2004: 378).
Was hat dies nun mit der Vernunft zu tun? Vernunft verlangt eine vernünftige Struktur der Welt, „von der alle Aspekte eine Antwort auf die Frage „warum“ liefern und in der nichts als bloße „positive“ Tatsache gegeben ist“ (ebd.: 427). Nur die Betrachtung der Welt als Entfaltungsprozess eines innerlichen Zwecks ermöglicht dies. Dass der Zweck von innen kommt und nicht von außen auferlegt ist, bedeutet, dass die Notwendigkeit der Entfaltung des Zwecks nicht etwa Zwang ist, sondern Freiheit bedeutet.
Die Vernunft brauchen wir, um diesen inneren Zweck zu begreifen. Aus diesem heraus ergibt sich dann die Möglichkeit, das Existierende zu kritisieren, weil es diesen inneren Zweck immer nur in endlicher, mangelhafter Weise verwirklicht.
All diese Bestimmungen sind in der einen oder anderen Form, wie mangelhaft auch immer, in allen gesellschaftlichen Formen der Geschichte bereits gegeben. Jede konkrete historische Verwirklichung zeigt aber einen Mangel, insbesondere durch die in ihr auftretenden Widersprüche. Der Trend geht dann in Richtung der Aufhebung des Mangels, der Fortschritt verläuft -trotz aller Phasen von Stagnation oder Regression für weite Bereiche - entlang des „Bewusstseins der Freiheit“. Vernunft unterscheidet sich auch dadurch vom Verstand, dass der Verstand sich mit dem Denken oder dem Abbilden des Gegebenen zufrieden geben kann, während die Vernunft auf die Praxis zielt und „das zweckmäßige Tun ist“ (HW 3: 26).
Bei Hegel ist diese Entwicklung eingebunden in die Vorstellung das gesamte All verkörpere ein solches freiheitliches, vernünftiges Selbstbewusstsein. Auch wenn wir Hegels universalistische Weltsicht an dieser Stelle nicht teilen, also nicht annehmen, dass das gesamte Universum sich zweckmäßig entfaltet, dann sollten wir trotzdem darüber nachdenken, für welche Ganzheiten in unserer Realität diese Betrachtungsweise des Zwecks sinnvoll ist. Die Hinweise auf den Übergang von rein pragmatischen, endlichen und äußerlichen Zwecken hin zur innerlichen Zweckmäßigkeit können etwa bei ökologischen Überlegungen ausgesprochen hilfreich sein. Menschen sollten die Natur nicht nur nach endlichen Nützlichkeitserwägungen behandeln, sondern die tiefe Zweckmäßigkeit der planetaren ökologischen Zusammenhänge berücksichtigen, in die das menschliche Handeln eingreift.
Der Unterscheid von Verstand und Vernunft zeigt sich jetzt daran, dass das richtige Verstehen der Zusammenhänge uns ermöglicht, richtige Mittel für gegebene Zwecke zu finden (Pragmatismus). Vernunft ist jedoch vonnöten, wenn wir den Gesamtzusammenhang der Systemdynamik (Ökologische Zusammenhänge…) berücksichtigen wollen. Dann kommt es darauf an, die Zwecke wie auch die Mittel im Zusammenhang mit der übergreifenden Bewegungsdynamik zu untersuchen. Nicht alle Mittel und erst recht nicht alle Zwecke sind aus dieser Perspektive wirklich vernünftig.
Die zu Anfang gestellte Frage: „Ist alles, was wir verstehen, auch vernünftig?“ muss deshalb verneint werden.
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