Juli Zeh:
Spieltrieb.

btb Verlag. 5. Auflage 2006.
Als moderner, d.h. mittelältlicher Mensch hat unsereine heute schon so ihre Probleme zu verstehen, was die jungen Leute umtreibt. Ein Buch, das mir meine Tochter zu lesen empfahl, kann hier Abhilfe schaffen. Es ist der Spieltrieb, der sie umtreibt, nicht mehr und nicht weniger, lerne ich daraus.

Ein Blick in die Realität hätte mir das auch sagen können. Ich hatte mich lange gefragt, warum immer weniger junge Leute im alternativen Sinne politisch aktiv sind. Gleichzeitig wird immer klarer, dass nur noch eine Minderheit der heute jungen Leute dem spießigen Ideal ihrer Großeltern vom lebenslangen Job und Kleinfamilie und Häuschen im Grünen nacheifert, weswegen die desolate soziale Situation sie gar nicht so empört, wie Linkspolitiker von ihnen erwarten. Wir, die Älteren, wollen für die Zukunft, für ihre Zukunft, den alten lieben Sozialstaat zurück - die meisten Jungen lässt das kalt, sie verschwinden vor ihren Computermonitoren und... spielen. Im real life sind sie cool, überschwänglich beim Feten und Party-Machen, aber in Wirklichkeit unendlich gelangweilt. Flatrate-Besaufen[1] ist noch das Höchste, was ihnen so etwas Ähnliches wie erregende Gefühle herauskitzeln kann. Naja, und jene, die trotzdem noch einen Sinn für Protest und Kritik haben, wollen sich partout nicht in die üblichen linken Organisierungsformen einpressen lassen.

Ada jedenfalls weiß mit 15 Jahren schon alles, was man in Bibliotheken lesen kann, sie ist müde und unneugierig. Man darf sie und ihre Generation nicht verwechseln mit den No-Future-Kids oder Nihilisten: "Wir haben nichts mehr, an das wir nicht glauben könnten. Mathematisch folgt daraus, dass wir an alles glauben. Alles gleich gültig." Woran erinnert meine Bücherweisheit das? Natürlich, an die sogenannte "Postmoderne". Insofern ist "Spieltrieb" ein Buch von postmoderner Jugend. Ich lerne daraus, dass die Ablehnung von Wahrheits- und Wissensansprüchen kein Rückfall in die vor-antike "Meinungs"vielfalt ist, bevor das begründete Wissen eine höhere Dignität zugewiesen bekam als die "bloße" Meinung. "Meinung?... Ich bilde schon lange keine Meinungen mehr. Ich sage Dinge, weil sie besser klingen als andere, die ich ebenfalls hätte sagen können." Alles ist eben gleich gültig geworden...

Früher dachten wir mal, Klugheit wäre zu nutzen für vernünftige Entscheidungen - Ada zeigt uns das Gegenteil, "sie traf keine Entscheidungen", sondern ihr Leben bestand aus einem "planmäßige(n) Herumirren in unserem Zeitalter". Sie lässt sich auf ein teuflisches Spiel ihres Klassenkameraden Alev ein, verführt ihren Sportlehrer Smutek und sie erpressen ihn mit den Fotos des Geschehens. Alev bleibt bis zum bösen Ende der Gott und Teufel vereinende Spieler, der seine Spielzüge nach mathematisch-ökonomischen Spieltheorien berechnet.

Ada bekommt vor Gericht einen großen Auftritt, bei dem sie ihre Sicht der Dinge schildert. Sie sieht sich in einem "Übergangszustand, in einer regellosen, verwirrenden und unübersichtlichen Welt". Das, was ihnen als Moral oder Demokratie angetragen wird, empfindet sie als Lüge und Vortäuschung. Die Welt ist nicht so, wie das Bundesverfassungsgericht behauptet: Die demokratische Heuchelei geht noch davon aus, der Mensch als geistig-sittliches Wesen sei gemeinschaftsbezogen und gemeinschaftsgebunden.

"Welche Gemeinschaft, werden wir fragen, und unser Gelächter wird zum donnergrollenden Soundtrack unserer Verständnislosigkeit. Wir sind nicht einmal in der Lage, eine Familie zu gründen, geschweige denn, uns mit einer Partei zu identifizieren!
Wissen Sie, was wir wollen? Wir wollen keine Gemeinschaft. Wir wollen unsere Ruhe. Nennen Sie es isoliert. Nennen Sie es selbstherrlich. Wir sind der banalen und kleinkrämerischen Reglementierungen müde, die uns bei Strafe zwingen, ein Licht an unser Fahrrad zu schrauben, mit dem Rauchen bis zum sechzehnten Lebensjahr zu warten und unsere Autos für zwei Euro pro Stunde in eine Kästchen zu stellen, das irgendjemand fein säuberlich auf den Boden gemalt hat, während wenige Flugstunden entfernt ganze Welten verbrennen, vertrocknen, ersaufen, explodieren, verbluten."
Für mich bleibt es nach wie vor nicht nachvollziehbar, warum diese Klarsicht nicht in das Neusetzen von Zielen und Aktivität umgesetzt wird. Vielleicht ist der erste Schritt für heute junge Leute schon schwer genug, Es geht für Ada vor allem darum, der allgegenwärtigen Heuchelei wenigstens Ehrlichkeit entgegen zu setzen. Als ich Marcuse las frage ich mich, wann die Menschen den Kaiser als nackt, das heißt: die gegenwärtige Gesellschaft als nicht mehr tragfähig erkennen würden. Es ist bereits so weit, wenigstens so weit: Ada sieht ihre Generation "außerhalb, kopfschüttelnd" stehen und meint: "unser massenhaftes Kopfschütteln wird eines Tages einen Sturm ergeben, der die Dächer der Häuser davonträgt". Die Suche nach etwas Besserem ist nicht in Sicht, "wir irren, umgeben von Wölfen, durch unbesiedeltes Gebiet und müssen uns bei alldem vom Schäferhund der notorischen, sinnentleerten Pflichterfüllung in die Waden beißen lassen."

Die Darstellung von Smuteks Gedanken ermöglicht es uns Älteren, uns den Jungen zu nähern. Zwar im negativen Sinne betroffen, getroffen - als Opfer des Spieltriebs der Jungen, versucht Smutek zu verstehen, was da vor sich geht. Insofern ist seine altmodische Modernität, verstehen zu wollen und sich nicht nur als Spiel-Opfer hinzunehmen, eine Brücke zwischen diesem Drang, verstehen zu wollen und dem unerklärlichen Leben. Smutek ist sensibel genug - vielleicht weil auch er als Nichtdeutscher nicht völlig angepasst ist - nachzufühlen, worum es geht und sich nicht nur als Opfer zu verstehen, sondern die Herausforderung als Chance anzunehmen, auch sein Leben zu verändern. Er versteht:

"Diese jungen Leute hatten keine Wünsche, keine Überzeugungen, geschweige denn Ideale, sie strebten keinen bestimmten Beruf an, wollten weder politischen Einfluss noch eine glückliche Familie, keine Kinder, keine Haustiere und keine Heimat, und sehnten sich ebenso wenig nach Abenteuern und Revolten wie nach der Ruhe und dem Frieden des Althergebrachten. Überdies hatten sie aufgehört, Spaß als einen Wert zu betrachten." Aber auch er sieht diese Situation nicht als neuen Endzustand. Das Im-Beliebigen-Schweben, das reine Spielen trägt kein menschliches Leben. Smuteks natürliche Menschlichkeit - ebenfalls ohne Heuchelei - wird auch für Ada zum Kick, der sie aus dem vorherigen Spiel heraustreibt, der es ihr ermöglicht, Smutek als wohl ersten Menschen ihr wirklich nahe kommen zu lassen. Diese Post-Moderne ist nicht nur das chaotische Nachglühen der Asche des Vergangenen, im grauen Einerlei versinkend - sondern Smutek erkennt in dem Ganzen auch das "Vorglühen einer neuen Epoche".

Fußnote: [1] Beim neuesten Trend in Discos kann man gegen einen festen Eintrittspreis den ganzen Abend trinken was und soviel man will. Das Ziel der Teilnahme ist dann das besinnungslose Besäufnis.

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