Was und wer hat Möglichkeiten?

Die Frage nach dem Verhalten des objektiv Möglichen zum Sein
kann als Grundfrage allen Philosophierens überhaupt aufgefaßt werden.
(R.E.Zimmermann, 1993, S. 105).

Ausgelöst wurde die obige Frage durch eine Debatte darüber, ob Tiere einen "ähnlichen Möglichkeitsraum wie wir Menschen haben", oder ob den Menschen eine spezifische Form von Möglichkeit zukommt.

1. Auf der Suche nach Freiheit in der Naturnotwendigkeit

Der Handlungsspielraum der Menschen unterlag lange Zeit den Regelmäßigkeiten und auch den Unbilden der natürlichen Umwelt. Dem gegenüber setzte sich in der Neuzeit der Wille durch, "die wahre Auffassung und die unbeschränkte Macht" über die Natur (Bacon 1870, S. 207) zu gewinnen. Das bedeutete, die gegenseitigen Abhängigkeiten der natürlichen Erscheinungen, ihre gegenseitige Bedingtheit und Bestimmtheit immer besser zu verstehen. Letztlich ließen sich für fast alle Erscheinungen Erklärungen, oft sogar eindeutig kausale finden. Während am Ausgangspunkt der Suche nach eindeutigen Bestimmungen (Determinationen) die Suche nach Gewißheiten, nach der Möglichkeit, das vorher als chaotisch und gesetzlos angesehene Reich der Natur zu verstehen und in ihm vernünftig leben zu können, stand - führte dieser Weg einerseits in Richtung der Knechtung der Natur (vgl. Kritik dazu in Merchant) und andererseits auch dazu, daß man sich selbst verfing in der "Kette der strengen Notwendigkeit" (Fichte 1800/1976, S. 18). Johann Gottlieb Fichte litt darunter, daß Freiheit anscheinend nur darin bestehen kann, "alles zu tun, was die Natur fordert" (ebd., S. 22). Fichte jedoch unterwarf sich dem nicht. Er vollzog einen Paradigmenwechsel, indem er - durch die Philosophie Kants angeregt und methodisch gestützt - gegen die Naturkraft das ICH setzte. "ICH bin ICH und setze alles Nicht-Ich!". Er war überzeugt:

Für Intelligenzen gibt es "mannigfaltige Handlungsmöglichkeiten, unter denen allen,... ich auswählen kann, welche ich will...". (mehr zu Fichte).

Dieser Impuls war die Geburtsstunde der Klassischen Deutschen Philosophie und der Ruf nach Freiheit kennzeichnet auch das philosophische Bemühen von Schelling und Hegel.

2. Die Trägheit hinter der Kategorie der Möglichkeit

Wenn Wissenschaft darauf orientiert, möglichst viele Erscheinungen zu erklären, d.h. auf allgemeine Zusammenhänge und konkrete Bedingungen zurückzuführen - bleibt tendenziell kaum noch ein Spielraum. Schauen wir uns einmal an, wie die den Spielraum kennzeichnenden Begriffe - in Wechselseitigkeit mit den sie begrenzenden Begriffen - bestimmt sind:

2.1. Zufälliges und Notwendiges auf der Ebene der Existenz

Zufälligkeit bzw. Notwendigkeit sind dadurch gekennzeichnet, inwieweit die Zusammenhänge durch Bedingungen festgelegt sind. Notwendige Erscheinungen sind auf Grund einer Gesamtheit der Bedingungen bestimmt - für zufällige Erscheinungen ist eine Bedingungsgesamtheit nur partiell gegeben.

Bedingungsgesamtheiten beziehen sich auf jeweils konkrete Bereiche der Welt - Notwendigkeit und Zufälligkeit sind immer auf genau diese konkreten Bereiche bezogen. Bedingungsgesamtheiten können - grob gesprochen - auch als systemkonstituierend betrachtet werden. Notwendigkeit und Zufälligkeit beziehen sich deshalb immer auf das Verhältnis zwischen Element und System (Hörz 1980, S. 138).

Notwendigkeit

Die Notwendigkeit ist in zweierlei Hinsicht relativ:

  1. Die Bedingungsgesamtheit ist in Hinsicht auf den als System erfaßten Bereich relativ - das System (wahrscheinlich sogar das Universum) ist selbst Element eines umfassenderen Systems.
  2. Die gegebenen Umstände gehen in der Entwicklung als Bedingungen zugrunde (Hegel 1830/1986, S. 289).

Zufälligkeit

Auf Grund der Bereichsspezifizierung existiert für jedes einzelne System jeweils nur eine reduzierte Bedingungsgesamtheit - also eine Bedingungsoffenheit, die den Zufall begründet. Zufälle sind jedoch nicht "schlecht-vermittelt-Beliebiges" (Bloch 1959/1985 S. 269), sondern selbst gesetzmäßig bedingt (Hörz 1980, S. 135).

Das Zufällige enthält einen inneren Widerspruch: Es existiert ohne Rücksicht auf die Sache (Hegel 1830/1986, S. 292), enthält aber nichtsdestotrotz die Bestimmungen der Sache (ebd., S. 293). Oder anders ausgedrückt:

  • Die Existenz ohne Rücksicht auf die Sache bringt einen Überschuß an Umständen mit sich. Die konkrete Sache und deren Bedingungsgesamtheit ist bestimmt/begrenzt - das Zufällige trägt ein Mehr an Umständen an sie heran.
  • Daß das Zufällige dem Inhalt der Sache gemäß ist/seine Bestimmungen enthält, bedeutet, daß nur das "Zufälliges" für die Sache wird, was überhaupt für sie Bedeutung hat (was nicht auf die Sache wirkt, hat gar keinen Bezug zu ihr, auch keinen "zufälligen". Dies wird gegenwärtig z.B. neu formuliert in den Erkenntnissen zur Selbst-Referenz der Wahrnehmung).

2.1. Wirklichkeit und Möglichkeit

2.1.1. Die Existenz und die Wirklichkeit

Hegel trennt sauber zwischen den Begriffen: Sein, Dasein, Existenz, Wirklichkeit. Das klingt zwar etwas haarspalterisch, hat aber seinen begründeten Sinn. Existenz und Wirklichkeit unterscheiden sich dabei durch folgendes:
Existierende Sachen und Prozesse ("Dinge") entstehen und vergehen. Alles Existierende ist eine "Welt gegenseitiger Abhängigkeit und eines unendlichen Zusammenhangs von Gründen und Begründeten" (Hegel 1830/1986, S. 253). Wir bewegen uns hier auf der Ebene der uns vertrauten gegenständlichen Welt - in ihr manifestiert sich/ erscheint auch jeweils das Wesen- aber nicht in direkter Form.
Die Wirklichkeit dagegen ist mehr als das erscheinend Existierende. Entsprechend der klassischen Definition ist das Wirkliche "der Inbegriff des wahrhaft Seienden, Wesentlichen im Gegensatz zum Erscheinenden, Unwesentlichen, nur Empirischen, Zufälligen" (Hoffmeister 1955, S. 672). Im Deutschen entspricht ihm die Werktätigkeit (von mhd. werkelicheit) - also eine von den Ergebnissen des Werkens, den existierenden Dingen, durchaus berechtigt gedanklich unterscheidbare Sphäre. Im "wahrhaft Seienden" stecken die Potenzen des Zukünftigen.

Alles Wirkliche ist vernünftig

Bekannt und oft kritisiert wurde Hegels Spruch:

Was vernünftig ist, das ist wirklich,
und was wirklich ist, das ist vernünftig.

Hegel weiß selbst, daß die Welt nicht danach aussieht: "Wer wäre nicht so klug, um in seiner Umgebung vieles zu sehen, was in der Tat nicht so ist, wie es sein soll?" (Hegel 1830/1986, S. 49). Der Begriff der Wirklichkeit ist bei Hegel gerade so definiert, daß er eben nur das Vernünftige (und vernünftig Werdende) umfaßt - alles andere gehört "nur" auf die Ebene der Existenz. Hegel warnt vor einer Verwechslung dieses Wirklichen "mit dem Handgreiflichen und unmittelbar Wahrnehmbaren" (ebd., S. 281). Die Ebene der Wirklichkeit ist auch dem Entstehen und Vergehen enthoben. Es gibt nur jeweils "die Wirklichkeit", was einander zeitlich folgt, sind existierende Dinge. Mit dem Begriff des Wirklichen umfaßt Hegel auch die Ideen, das Wollen und das Sollen als Wirkende. Diese sind dadurch nicht mehr der "Welt" vielleicht hilflos Gegenüberstehende. Für Hegel ist die Wirklichkeit ein "emphatischer" Begriff. Die Philosophie hat eben nicht nur das Gegebene, Existierende zu beschreiben, sondern ihr Inhalt ist die Wirklichkeit in dem eben angedeuteten umfassenden Sinne. Philosophie steht dadurch dem jeweils Gegebenen, Faktischen, "nur" Existierenden gegenüber immer kritisch gegenüber - es vertritt immer das Wirkliche, zur Vernunft Kommende.

2.1.2. Die Möglichkeit

Der Begriff Möglichkeit bezieht sich in exaktem Sinne lediglich auf die Ebene der Wirklichkeit, nicht die der Existenz. Möglichkeit und Wirklichkeit sind dabei zwei Momente jedes existierenden Dinges/Prozesses - jedoch nicht selbst entstehende oder vergehende "Zustände". Die Redeweise: "Die Möglichkeit verwirklicht sich" ist deshalb auf keinen Fall als zeitliche Aufeinanderfolge zu verstehen!

Vgl. einen anderen Text zur Analyse der menschlichen Arbeit

Dann bleiben immer noch mehrere MöglichkeitenJ , Möglichkeiten zu verstehen:

Zuerst einmal stellen wir einen Begriff der "Möglichkeit" beiseite und betrachten ihn nicht weiter: nämlich den, der auf einer unzureichenden Kenntnis einer Sachlage beruht ("ich weiß nicht, ob dies oder jenes der Fall sein könnte...- beide sind möglicherweise der Fall...").

Formelle Möglichkeit

Die "einfachste" Form der Möglichkeit ist die der formellen Möglichkeit. Formell möglich ist alles, was sich nicht widerspricht (Hegel 1814/1986, S. 203). Alles, was in der Welt existiert, sollte zwar einerseits formell möglich sein - andererseits wissen wir, daß es dialektische Widersprüche enthält, also wird diese Form der formellen Möglichkeit für uns recht kompliziert. Außerdem ist die Aussage "es ist möglich" in diesem Sinne recht "flach und leer" (ebd.).

Reale Möglichkeit

Interessanter wird es schon, wenn man inhaltliche Bestimmungen hinzunimmt. Die inhaltsvolle Wirklichkeit ist real - ebenso ist die dazugehörende Möglichkeit nicht mehr nur eine formelle, sondern die reale. Diese reale Möglichkeit einer Sache hängt von den konkreten Umständen/Bedingungen der Sache ab. "Wenn alle Bedingungen einer Sache vollständig vorhanden sind, so tritt sie in Wirklichkeit" (Hegel 1814/1986, S. 210). Für diese vollständige Bedingungsgesamtheit geht die reale Möglichkeit also in die Notwendigkeit über. Den jeweiligen konkreten Umständen entsprechend ist notwendig bestimmt, was real möglich ist. "Was daher real möglich ist, das kann nicht mehr anders sein; unter diesen Bedingungen und Umständen kann nicht etwas anderes erfolgen" (Hegel 1814/1986, S. 211).

Relativität der Bedingungsgesamtheit

Auf dieser Ebene des Wirklichen und Möglichen wäre nicht mehr dazu zu sagen - wie es auch Hegel tut. Allerdings ist das Wirkliche nichts Abstraktes, sondern konkret inhaltlich bestimmt. Und alles Bestimmte ist auch beschränkt - jede konkrete Wirklichkeit ist nur beschränkt. Anders ausgedrückt: für Jedes gibt es in gewissem Sinne eine Bedingungsgesamtheit, die es als notwendig bestimmt - in anderer Hinsicht ist die Bedingungsgesamtheit nur partiell gegeben - es bleibt zumindest Raum für das Zufällige. Dies ist aber ein Thema der Ebene der Existenz und bleibt deshalb im System Hegels nur marginal (erwähnt z.B. in 1814/1986, S. 212).

Möglichkeit gibt’s nur in der Einzahl

Wenn etwas Bestimmtes möglich ist . dann heißt das auch, daß es anders sein kann (unter anderen Bedingungen). Die Möglichkeit ist dann die "vergleichende Beziehung" der jeweils die Möglichkeit feststellenden Sätze. "Dies ist möglich" - "Das andere ist möglich". Im Umgangssprachlichen werden aus den Inhaltsbestimmungen "Dies" und "Das andere" dann "Möglichkeiten".

3. Zurück zur existierenden Welt

3.1. Es gibt keine MöglichkeitEN

Hegel lehnt eine Mehrzahl der Möglichkeit ab. Er meint, daß "der üble Wille und die Trägheit sich hinter der Kategorie der Möglichkeit (verstecken)... und "der Scharfsinn des leeren Verstandes ... sich am meisten in dem hohlen Ersinnen von Möglichkeiten und recht vielen Möglichkeiten (gefällt)" (Hegel 1830/1986, S. 282f.). Er kennt nur eine Möglichkeit für die Wirklichkeit. Die logische Beziehung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit hat für ihn: W1(M2) ® W2(M3) ® ...

"Diese Wirklichkeit, welche die Möglichkeit einer Sache ausmacht, ist daher nicht ihre eigene Möglichkeit, sondern das Ansichsein eines anderen Wirklichen; sie selbst ist die Wirklichkeit, die aufgehoben werden soll, die Möglichkeit als nur Möglichkeit." (Hegel 1814/1986, S. 209).

Um die Verzweigungsstruktur evolutionärer Prozesse abzubilden, könnte man dieses Bild erweitern: W{M1 (W1)...Mn(Wn)} ® Wreal´ {M...´}, wobei keine, eine oder mehrere "neue Wirklichkeiten" aus den Möglichkeiten M1 bis Mn entstehen. Jedoch ist es nicht sinnvoll, das Verzweigungsbild auf diese Ebene zu transportieren und die Wirklichkeiten zu vervielfachen - die Verzweigung findet auf einer anderen Ebene, nämlich derjenigen der existierenden Systembereiche statt.

Wenn üblicherweise von "Möglichkeiten" gesprochen wird, werden "mögliche Bestimmungen des Existierenden" gemeint. Früher ersetzte ich dieses Wort für die Ebene des Existierenden mit dem Wort "Kontingenzen" (Maß an Freiheitsgraden). Auch das "Zufällige" wäre eine angemessene Umschreibung, denn es ist bestimmt als "Wirkliches, das als nur möglich bestimmt ist" (Hegel 1814/1986, S. 205). Beim Nachlesen in Aristoteles wurde mir jedoch bewußt, daß damit noch nicht das eigentlich Gemeinte, nämlich das in die jeweilige Zukunft weisende Latente, Potentielle erfaßt ist. Angemessener wäre deshalb das Wort "Vermögen" bzw. "Potenzen" (lat. potentia = das Können). Um die Untersuchungen nicht zu verkomplizieren bleiben wir bei der üblichen Sprechweise. Wir verstehen jetzt aber unter "Möglichkeiten" -> "Vermögen/Potenzen" und unter "Verwirklichen" -> "Aktualisieren".

3.2. Historizität der Möglichkeiten

Bezüglich der so verstandenen Möglichkeit"en", d.h. Zufälligkeiten und Potenzen ist es wichtig, die verschiedenen Zeithorizonte zu berücksichtigen. Historizität hängt zusammen mit der Veränderung von Bedingungen. Bedingungen sind jene Umstände, die im Verlauf der Zeit durch den Prozeß selbst verändert werden und vergehen. Sie "gehen in die Sache ein". Nehmen wir einen konkreten Zeitpunkt "Jetzt" heraus (und vergessen für den Zeitraum unserer Überlegung, daß er sich auch weiterschiebt auf der Zeitlinie). Wir befinden uns dabei eigentlich auch gar nicht auf einem Zeitpfeil, denn nicht alle uns gleichzeitig umgebenden Dinge haben die gleiche historische Entwicklung unter gleichen Bedingungen gehabt wie wir, die wir an unserem "Jetzt" stehen. Für Elefanten sieht die (eigene) Vergangenheit ganz anders aus. Auch für Menschen anderer Gegenden, und für Menschen verschiedener sozialer Rollen, Geschlechter etc. Auch Du und ich stehen an unterschiedlichen Stellen des evolutionären Verzweigungsbaums. Die weiter in der Vergangenheit liegenden Zweige umfaßten größere Einheiten, z.B. alle Säugetiere.

Die Vergangenheit

Historische Untersuchungen können für fast jedes Ereignis genügen Gründe und Ursachen angeben, die es bewirkten. Man kann dann noch zwischen wesentlichen und unwesentlichen Ursachen unterscheiden und feststellen, daß es Einflüsse eine Rolle spielten, die ihren Grund nicht im untersuchten Prozess selbst haben - die also zufällig waren. Trotzdem zeigt sich im Nachhinein, daß insgesamt genau all jene Bedingungen vorhanden gewesen sind, die zu genau dem geführt haben, was geschehen ist. Klaus Holzkamp verwendet bei der Untersuchung der Entstehung und Entwicklung des Psychischen bsw. die "funktional-historische Methode" (Holzkamp 1985, S. 66). Bei ihr wir dem Zusammentragen von empirischem Material eine logisch-historische Rekonstruktion (ebd., S. 68) vorgeordnet, in der genau untersucht wird, welche Voraussetzungen logisch für die Entwicklung der aufeinanderfolgenden funktionalen Prozesse notwendig sind.
Dann wird geschaut, ob diese entwicklungsnotwendigen Voraussetzungen auch empirisch real möglich gewesen sind ("Es spricht nichts dagegen..." (ebd., S. 73)). Es wird also vom Standpunkt des gerade Untersuchten aus die je eigene Vergangenheit zurückgeschaut. Von jedem Zweigende aus läßt sich ein eindeutiger Weg zurück zur Wurzel erkennen. Aber von der Wurzel her gibt es viele verschiedene "Zukünfte" für verschiedene Evolutionsprodukte. Bei historischen Untersuchungen wird i.a. der eindeutige Weg rekonstruiert. Es darf hier keine "zweigleeren" Stellen geben, alles muß wohlgeordnet aufeinander folgen - wenn auch mit qualitativen Sprüngen. Aber auch diese benötigen Voraussetzungen aus der jeweils vorherigen Phase, die man untersuchen kann.

Trotzdem wäre es ein verhängnisvoller Irrtum, diesen einen eindeutigen Weg auf alle anderen Zweite zu projizieren. Es ist sorgfältig zu unterscheiden, welche Bereiche wirklich gemeinsame Evolutionsschritte vollzogenhaben.

"Mit der Heraushebung der allgemeinen Prinzipien ... der Entwicklung ist weder "normativ" ausgesagt, daß ein solcher Entwicklungsprozeß stattfinden muß, noch ist behauptet, daß die eine ... Entwicklungsprogression tatsächlich überall stattgefunden hat bzw. stattfinden wird, sondern es soll lediglich faßbar gemacht werden, nach welchen Prinzipien die ... Entwicklung, sofern sie stattfindet, begriffen werden muß, was auch das Begreifen der Bedingungen der Stagnation bzw. des Verfalls ... einschließt." (Holzkamp 1985, S. 184).

Die Zukunft

In die jeweilige Zukunft nimmt jede Sache/jeder Prozeß die Geschichte seines Zweigs mit, also gewisse Voraussetzungen, von denen aus nicht mehr "alles beliebige" möglich ist. Die Möglichkeiten seiner Zukunft sind dadurch bedingt, wenn auch nicht hundertprozentig festgelegt.

Hier ist die Stelle, bei der ich schon länger mit Hegel unzufrieden war (Mir war noch nicht klar, daß Hegel sich im Verlauf seines Denkens längst von der nur existierenden Ebenen zur Ebene des Wirklichen heraufgeschwungen hatte und ihn erstere einfach nicht mehr interessierte.) Für die Ebene des Wirklichen gibt es tatsächlich nur EINE Möglichkeit als Moment der Wirklichkeit. Die Potenzen/Zufälligkeiten/Möglichkeiten auf der Ebene der Existenz sind nicht mehr sein Thema. Daher rühren die Differenzen, die ich beim Umgang mit den Möglichkeiten zwischen Hegel und Ernst Bloch entdeckte (vgl. Schlemm 1999, S. 118):

  • Hegels Prozeß wird durch ein bestimmtes Negierendes vorangebracht (Hegel 1807/1988, S. 62) - Bloch betont die Unbestimmtheit des Negierenden;
  • Für Hegel ist die Möglichkeit nur ein abstraktes Moment der Wirklichkeit (als reale wird sie zur Notwendigkeit) - Bloch versteht die Möglichkeit als Eigenschaft der Materie (Materie existiert "nach Möglichkeit" und "in Möglichkeit");
  • Hegel betont, daß die reale Möglichkeit in Notwendigkeit übergeht, "weil die Umstände so sind" - Bloch betont die partielle Bedingtheit auch im Realen - das Ganze ist nie fertig, man kann Systeme nur als offen betrachten;
  • Für Hegel verstecken sich hinter der Kategorie der Möglichkeit "übler Wille und die Trägheit" - Bloch sieht dagegen ein "Meer von Möglichkeiten";
  • Für Hegel besteht die Aufgabe des Erkennens darin, "das Zufällige zu überwinden" - für Bloch ist die ganze Welt mitten im offenen Experimentieren (Experimentum Mundi).

Im Prinzip kann man Hegel für den Bereich der Untersuchung der Vergangenheit in Anspruch nehmen - und für die Bedingtheit der Evolution auf jedem einzelnen Zweig - während für die Zukunft auf der Ebene der Existenz (und die interessiert uns ja vorwiegend) die Blochsche Ansicht adäquater ist.

3.3. "Möglichkeiten" als Spielraum von Elementen in Systemen

System-Element-Verhältnisse

Wir hatten oben schon erwähnt daß es von den jeweiligen Bedingungen abhängt, ob Ereignisse oder Zusammenhänge notwendig oder zufällig, möglich oder unmöglich sind. Diese Bedingungen verweisen auf eine notwendige Konkretisierung. Die reale Welt ist kein Durcheinander unentwirrbarer Wechselbeziehungen - sondern in sich strukturiert. Es gibt in ihr Bereiche, in denen bestimmte Wechselbeziehungen ihre konkreten Strukturen wesentlich bestimmen - sie werden dadurch auch unterscheidbar von den typischen Strukturen in anderen Bereichen. Bereiche mit qualitativ (!) unterscheidbaren wesentlichen und für diese Bereiche notwendig-allgemeinen Zusammenhangsformen werden auch Systeme genannt. Sie sind niemals vollständig voneinander isoliert, sondern wechselwirken mit ihre Umwelt (anderen Systemen). Die sie bildenden Zusammenhänge beruhen auf Wechselwirkungen jeweils elementarer Objektstrukturen, hier "Elemente" genannt. Auf ihrer eigenen Ebene stellen sie selbst Systeme dar - und Systeme sind Elemente umfassenderer Systeme. Das bezieht sich auf unterschiedliche Systeme innerhalb einzelner Wissenschaftsbereiche - aber auch deren verschiedene Ebenen. In der Physik existieren die Strukturniveaus der (noch nicht genau erfaßten) Vakuumstrukturen, der Quantenobjekte, der Objekte des Mesokosmos und der Objekte im Universum - schließlich das Universum selbst; die Biologie untersucht Organismen, ihre biochemischen "Bausteine", ihre jeweiligen Zusammenschlüsse wie Populationen, Ökosysteme etc, und die Gesellschaftstheorie befaßt sich mit individuellen Subjekten, Gemeinschaften und gesamtgesellschaftlichen Phänomenen.

3.4. Möglichkeitsfelder

Die jeweilige Vielfalt der Verhaltensmöglichkeiten von Elementen in Systemen befindlichen Möglichkeiten/(Potenzen) wird erfaßt im Möglichkeitsfeld/(Potenzfeld). Es umfaßt "die mit der Tendenz des Systemverhaltens verbundenen wesentlichen Möglichkeiten des Elementverhaltens, die sich bedingt zufällig mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit verwirklichen" (Hörz/Wessel 1983, S. 110). Das Möglichkeitsfeld ist nicht statisch, sondern selbst veränderlich. Durch innere Wechselwirkungen der Elemente entstehen auch die Potenzen für Neues - Zufälligkeit allein ist dafür nicht ausreichend. Möglichkeiten werden durch die vorhergehende Entwicklung bestimmt - ihre Verwirklichung durch die Bedingungen (Hörz/Wessel 1983, S. 116).

Beispiele Physik

Physikalische Systeme existieren auf Grund der unterschiedlichen Reichweiten und Stärken der vier physikalischen Wechselwirkungen (Kräfte). So lassen sich aufgrund der durch die Entfernung gegebenen relativen Isolierung Sternensysteme voneinander unterscheiden. Ebenfalls Galaxien etc. Auch die Sterne selbst existieren und entwickeln sich auf Grund der jeweiligen Bedingungen (Gasdichte, Temperatur, Druck, Vorliegen von Atomen und Ionen spezifischer chemischer Elemente) nach einem gemeinsamen Entstehungsprozeß eher relativ isoliert und als System betrachtbar.

1. Klassische Mechanik

Als System betrachten wir z.B. eine Gesamtheit von Messungen an Planeten, die einzelnen Messungen sind die Elemente. Es wird vorausgesetzt, daß sich ein Körper zu jedem Zeitpunkt an einem bestimmten Raumpunkt aufhält und dieser beliebig genau gemessen werden kann. Dann ist das Möglichkeitsfeld reduziert auf einen beliebig genauen Meßwert für die Koordinaten. Diese Form wurde i.a. verallgemeinert als "wissenschaftliche Determination" und führte zum deterministischen Mechanizismus. Die Klassische Mechanik wäre auch statistisch interpretierbar, wie Max Born zeigte (nach Röseberg 1975). Er nahm statistische Verteilungen für die Anfangswerte an, so daß seine Größen Aufenthaltswahrscheinlichkeiten, keine exakten Koordinaten wurden. Dann existiert für die einzelnen gemessen Meßgrößenwerte ein objektives Möglichkeitsfeld.

2. Statistische Physik

Die statistische Thermodynamik verbindet zwei Strukturniveaus. Dabei wird die makroskopische Teilchenbewegung als Folge der Wärmebewegung der Moleküle der Lösung gedeutet (Röseberg 1975, S. 87). Der makrophysikalische Bereich wird charakterisiert durch meßbare physikalische Größen wie Temperatur und Entropie. Diese erweisen sich als Funktionen von mikrophysikalisch möglichen Größen, für die es Verteilungsfunktionen gibt (Temperatur als Funktion der durchschnittlichen Teilchengeschwindigkeit). Die mikrophysikalischen Größen (Geschwindigkeit der einzelnen Teilchen) jedoch fluktuieren und die Fluktuationen sind damit zu wesentlichen/konstituierenden Elementen der Theorie geworden. Das Möglichkeitsfeld besteht aus den individuellen Schwankungen der mikrophysikalischen Größen.

3. Quantentheorie

Im Quantenbereich kann nicht mehr von der Vorstellung isolierter "Körperchen" ausgegangen werden, die zu einem Zeitpunkt an einem bestimmten Ort auffindbar wären. In der Quantentheorie wird das Verhalten des Systems durch Bewegungsgleichungen für den Zustandsvektor y im Hilbertraum erfaßt. Das Möglichkeitsfeld ist durch das diskrete Eigenwertspektrum der Observablen, - das sich auf sich auf wiederholte Messungen bezieht - gegeben.

Ein anderes Beispiel aus der Elementarteilchentheorie betont eine andere Art des Möglichkeitsfelds und betrachtet alle Zerfallskanäle für den Zerfall instabiler Elementarteilchen als Möglichkeitsfeld (vgl. Hörz/Wessel 1983, S. 111).

4. Kosmologie

Im Bereich der Evolution kosmischer Objekte werden die Verzweigungsmöglichkeiten der Evolution als Möglichkeitsfeld für das jeweilige System betrachtet. Beispielsweise stellen die verschiedenen Sternevolutionen Möglichkeiten des Möglichkeitsfeldes der Galaxien dar (vgl. Hörz/Wessel 1983, S. 111). Für Sterne verschiedener Massen gibt es prinzipiell unterschiedliche Entwicklungswege, die von Umgebungsparametern noch zusätzlich variiert werden. Allerdings erfolgt letztlich die Evolution innerhalb der durch das Herztsprung-Russell-Diagramm gegebenen Aufeinanderfolge die stark von wenigen Parametern determiniert wird. Unklar ist, ob es für das gesamte Universum, z.B. im Bereich der "Urknall" genannten Singularität Prozesse gegeben hat, bei der die weitere Entwicklung nicht schon "vorherbestimmt" war, sondern sich verschiedene neue Wechselwirkungstypen/Kräfte hätten ausprägen können, bzw. ihre Parameter und typischen Konstanten anders gewesen sein könnten.

Beispiele Biologie

In der Biologie haben Systeme prinzipiell einen anderen Charakter als in der Physik. Es wechselwirken nicht nur die vier physikalischen Kraftformen und bilden voneinander unterscheidbare Systembereiche - sondern die Systeme sind durch Selbstreproduktion und Selbstreferenz (Autopoiese) gekennzeichnet. Sie sind gegenüber Stoffwechsel offen, erhalten aber ihre spezielle Strukturiertheit, ihre Organisation stabil. Die Aufrechterhaltung der "dynamischen Ordnung" (v. Bertalanffy) für das Ganze bestimmt die Funktion der im System enthaltenen Teile, der Elemente des Systems. Mit der Funktion, die den Zweck des Systemerhalts und seiner Entwicklung erfüllen, erhalten wir hier neue Faktoren. Diese "organismische" Sicht wird oft auch auf die Gesellschaft und zumindest auf die ökologische Einbindung der menschlichen Gesellschaft in die natürliche Welt betont. Wenn nur der Erhalt des gegebenen Systems die Funktion bestimmen würde, wäre diese organismische Funktionsorientierung einseitig verstanden - letztlich geht es um die Entwicklung, die Ko-Evolution der beteiligten Momente. Das Lebendige ist ein Prozeß, in der die "Glieder sich ebenso gegenseitig Mittel als Zweck" (Hegel 1830/1986, S. 141) sind.

Möglichkeiten innerhalb des Systems beziehen sich deshalb immer auf die Funktion der Elemente für den Erhalt und die Entwicklung des Systems und der Elemente.

1. Mutationen

Fluktuationen im Bereich der Genomstruktur erweisen sich in der biotischen Evolution als notwendig - solange sie ein gewisses Maß nicht überschreiten. Eine große Rolle spielen sog. "neutrale Mutationen", die nicht sofort wirksam als Potential für spätere günstige Anpassungen bereit stehen.

2. Evolutionäre Vielfalt

Während in der physikalischen Evolution aus den jeweils konkret gegebenen Bedingungen nur jeweils eine Möglichkeit zur Weiterentwicklung gibt (z.B. in der Sternevolution), sieht es in der Biologie differenzierter aus. Es gibt an vielen Stellen der Evolution sogenannte "sensible Phasen", wo das jeweils zu einer konkreten Zeit Gegebene nicht "präformiert" ist für den weiteren Entwicklungsweg, sondern offen gegenüber verschiedenen zukünftigen Entwicklungs-"Zweigen". Beispielsweise hätten andere, als die das Licht in linke Richtung polarisierenden Zuckermoleküle der Nukleinsäuren in die weitere Evolution eingehen können. Es gibt biologisch keinen Grund, warum es nicht die rechtsdrehenden hätten sein können (Diskussion dazu in Schlemm 1996a, S. 99). Auch die grundsätzliche Struktur des genetischen Codes hätte anders sein können.

Im Einzelorganismus und auch bezüglich der Organisation der Lebewesen in der Populations- und Artenentwicklung erwies sich eine gewisse "Plastizität" aller Strukturen als Voraussetzung für die weitere Evolution (Schlemm 1996a, S. 115, nach Cimutta).

Die Artenvielfalt nahm vor allem nach großen Aussterbeperioden immer wieder geradezu explosionsartig zu - "Radiation" wird dies in der Evolutionsbiologie genannt. Gerade diese Zeiten waren davon gekennzeichnet, daß viele ökologische Nischen frei geworden waren, und sich Organismen mit den verschiedensten Bauplänen und Prinzipien entwickeln konnten, die jeweils ihre Form und Lebensweise nicht direkt von der Umwelt "aufgeprägt" bekamen.

3. Verhaltensdifferenzierung

Zusätzlich zur äußeren Form und der Biochemie gehört zur Bestimmung einer Tierart auch ihr jeweils arteigenes Verhalten. Differenziertes Verhalten der Einzelorganismen ist im Bereich des Biologischen populationsstabilisierend. Bei den Insekten differenzierte und koordinierte sich ihr Verhalten i.a. über eine genauere Differenzierung der einzelnen genetischen Programme der Individuen. Die Wirbeltiere dagegen vergrößerten gerade die Flexibilität des einzelnen Individuums.

4. Grenzen des Möglichen - Aktivitätsdetermination bei Tieren

Ein Tier kann jedoch nicht "selbst entscheiden", was es wann tut. Die Aktivität eines Tieres (Hinwendung zu Nahrung, Fressen) wird nicht unmittelbar und direkt durch die äußeren Gegebenheiten (Futter vorhanden) bestimmt. Zusätzlich muß ein innerer Bedarf danach vorhanden sein (Hunger). Dieser Bedarf hängt von inneren Zuständen ab und wird entsprechend den jeweiligen inneren Ungleichgewichtszuständen "gewertet". Diese Wertungen der in der Orientierung vorgefundenen äußeren Tatsachen sind die ersten und niedersten Formen von Emotionalität. Sie stehen dem Tier aber nicht frei, sondern sind eine "zwangsläufige Folge der Zustandsänderung" (Holzkamp 1985, S. 97). Diese psychische Komponente verweist darauf, daß das Tier nicht lediglich eine biochemische Fabrik ist. Der Zusammenhang von äußeren Stoffen und innerem Bedarf wird nicht direkt über biochemische Reaktionen vermittelt - sondern über andere Signalformen, aus denen das Psychische entsteht - wodurch eine gegenüber der Biochemie neue Ebene aufgespannt ist. In der Emotionalität werden verschiedene Teilwertungen zu einer Gesamtwertung kombiniert, so daß in der Umsetzung ein gewisser "Spielraum" (Holzkamp 1985, S. 107) gegeben ist. Durch die individuelle Lern- und Entwicklungsfähigkeit ergeben sich weitere Differenzierungen. Die Aktivitätsabläufe (was nacheinander getan wird), sind nicht mehr nur genetisch-instinktiv "angeboren", sondern können entsprechend den Erfahrungen mit der Umwelt zuerst in ihrer Reihenfolge - später noch weitergehender - verändert werden. Gewöhnung, durch Erfahrung modifizierbare "angeborene auslösende Mechanismen" (Lorenz), Lernen aus Fehlern, die Antizipation von Situationen etc. gehören dazu. Im Zusammenhang mit den Sozialverbänden entwickelte sich vor allem bei den Jungtieren ein Spielverhalten. Aber auch hier ist das Lernen nicht beliebig. "was auf welche Weise gelernt werden kann, ist bestimmt durch die "Lebensnotwendigkeiten" einer bestimmten Spezies in ihrer artspezifischen Umwelt" (Holzkamp 1985, S. 128). Dadurch ist die Lernfähigkeit für jede Tierart auch begrenzt, was Dompteure wohl wissen.

Besonderheit der menschlichen Gesellschaft

Die Entstehung der natürlichen "Kultürlichkeit" der Menschen

Menschen enthalten die biotische Evolution - sind aber in ihrer eigenständigen Qualität durch eine völlig neue Möglichkeitsbeziehung gegenüber der Welt bestimmt. In der Evolution zum Menschen vollzog sich ein qualitativer Sprung. Ausgehend von sozialem und werkzeuggebrauchenden Verhalten primatenartiger Vorfahren entsteht die Arbeit. Bei ihr werden nicht erst angesichts des primären Bedarfsziels ("Hunger") Werkzeuge hergestellt und benutzt, sondern sie werden in verallgemeinerter Weise zur Erreichung einer bestimmten Art von Bedarfszielen überhaupt, sozusagen "für den Fall"... ausgewählt und zugerichtet... quasi als "Selbstzweck" bereitgestellt und aufgehoben (Holzkamp 1985, S. 173). Diese Verallgemeinerung des Verhaltens führt zu neuen sozialen Beziehungen, die über das unmittelbare präsente Verhalten in der Gruppe hinausgehen. Der gemeinschaftliche Reproduktionsprozeß überschreitet die Unmittelbarkeit, führt zur arbeitsteiligen Handlungskoordination, die nicht nur genetisch, sondern auch kulturell weiter "vererbt" wird und auch nicht mehr instinktiv, individuell lernend - sondern sozial-kulturell organisiert wird. Aus der sozialen Gruppe (die es auch schon bei Tieren gibt) wird die menschliche Gesellschaft. Die ersten so lebenden und arbeitenden Vor-Menschen wurden in ihrer Evolution noch von biotischen Prozessen bestimmt - immer wieder starben Gruppen aus. Aber es zeigte sich, daß die gesellschaftliche Reproduktionsweise letztlich auch biotische Selektionsvorteile hatte und schließlich auch auf die genomische Information der Vorfahren der Vor-Menschen zurückwirkte, sich in sie einschrieb. Erst nach vielen Jahrhunderttausenden hatte dieser biotische Prozeß sich so weit fortgesetzt, daß jedes menschliche Wesen schon von seinen Genen her zu einem gesellschaftlichen Leben - nicht mehr bloß zu einem tierisch-sozialen - bestimmt ist. "Der Mensch gewinnt auf phylogenetischem Wege... seine gesellschaftliche Natur..." (Holzkamp 19085, S. 180). Ab jetzt bestimmten nicht mehr die biotischen Evolutionsprinzipien, sondern gesellschaftlich-kulturelle Prozesse dominieren die Entwicklung der Menschen.

Das Wesen der Menschen

Es hat nicht viel Sinn, irgendwelche Eigenschaftszuschreibungen an ein festes "Wesen des Menschen" zu binden. "DER Mensch" ist jeweils ein Individuum, ein Subjekt. Gerade das unterscheidet ihn von jedem Tier. Allerdings kann man bezüglich der Unterscheidung von anderen lebenden Organismen schon einen wesentlichen Unterschied aller Menschen gegenüber den Tieren festhalten:

Es ist biologisch (genetisch) festgelegt, daß der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist. Er ist "natürlich" gesellschaftlich. Jede/r Einzelne!

Es hat kein Sinn, Natur und Gesellschaft voneinander isoliert zu betrachten: Aus einem Organismus-Umwelt-Verhältnis ist ein Mensch-Welt-Verhältnis (Holzkamp 1985, S. 190) geworden. Die aktive Anpassung des gesellschaftlichen Lebensprozesses an die Außenweltanforderungen (ebd. S. 180) wurde zum Evolutionsprinzip.

Es hat auch keinen Sinn, Mensch und Gesellschaft voneinander isoliert zu betrachten: Jedes Individuum ist gesellschaftlich vermittelt und Individualisierung bedeutet, seine (besondere) gese llschaftliche Vermitteltheit zu leben. "Wenn ich lebe, alle Ausdrucksformen meiner ganz einzigartigen Individualität sind zugleich gesellschaftlich Relevante, so halte ich der Menschheit ihre eigene Großartigkeit vor Augen... " (Rudolph 1998, S. 10). Das Individuum ist aber auch nicht durch die Gesellschaft "geprägt" - sondern hat ihr gegenüber eine besondere Möglichkeitsbeziehung.

Die besondere Möglichkeitsbeziehung des Menschen

Schon in der Biologie ist das System nicht Selbstzweck und seine Elemente funktionieren zu dessen Selbsterhaltung - sondern das System ist auch Mittel zur Existenz der einzelnen Organismen. Umso mehr ist in der menschlichen Gesellschaft das Ziel "die Existenzerhaltung der Einzelindividuen ..., das allerdings nur über die Beiträge des Einzelnen zur Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens, das die je individuellen Lebensmittel und -bedingungen einschließt, erreicht werden kann" (Holzkamp 1985, S. 190). Daß in der gegenwärtigen Gesellschaft ein Element zur Erhaltung und Entwicklung des Systems, das Kapital, tatsächlich Selbstzweckcharakter angenommen hat, ist eine spezielle Frage - und verdeutlicht in diesem Zusammenang nur die "Unvernünftigkeit" des Gegebenen.

Auf der prinzipiellen Ebene muß jedoch Folgendes betont werden: Aufgrund der nicht mehr vorhandenen Unmittelbarkeit der Kooperation bei der Erlangung der Lebensmittel, d.h. der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit der individuellen Existenzsicherung kann der Einzelne kann auch dann prinzipiell in seiner Existenz erhalten werden, wenn er sich nicht an der Erhaltung des "Systems" beteiligt (Holzkamp 1985, S. 235). Dass, was sich in gesamtgesellschaftlicher Kombination als Handlungsnotwendigkeit darstellt, hat für den Einzelnen keineswegs apriori "zwingenden" Charakter (ebd., S. 235).

"Da hier die Existenzsicherung nicht mehr unmittelbar von der Bedeutungsumsetzung abhängt, ist das Individuum aber durch die jeweils konkreten vorliegenden Bedeutungsbezüge in seinen Handlungen keinesfalls festgelegt, es hat im Rahmen der globalen Erfordernisse der eigenen Lebenserhaltung hier immer auch die "Alternative", nicht oder anders zu handeln, und ist in diesem Sinne den Bedeutungen als bloßen Handlungsmöglichkeiten gegenüber "frei"." (Holzkamp, S. 236)

Die zweite Möglichkeit

Natürlich gibt es - auf anderen Ebenen analysierbare - konkret gegebene individuelle Lebenslagen und Position innerhalb der arbeitsteiligen Gesamtstruktur. Aber jeder Mensch kann und muß sich in jeder Situation den gegebenen Bedingungen gegenüber bewußt verhalten. Er kann sie, so wie sie sind, akzeptieren, sie annehmen und sein Verhalten ihnen gegenüber anpassen - er kann sie aber auch in Frage stellen, sich kritisch ihnen gegenüber verhalten, sie letztlich verändern, indem er selbst die Bedingungen verändert. Es gibt immer die erste Möglichkeit, sich zu verhalten - aber immer auch die zweite. Wird sie nicht gewählt, war es immerhin eine bewußte Entscheidung.

4. Gesetze und Möglichkeiten

Gesetzesaussagen sind keine Beschreibungen von Ereignissen oder Prozessen, sondern erfassen allgemein-notwendige, wesentliche innere Zusammenhänge. Sie gelten jedoch - bis die letzte Weltformel gefunden sein sollte - nicht "für die ganze Welt", sondern bestimmte durch typische Bedingungen bestimmte Bereiche. Diese Bedingungen gehören zum Gesetz dazu. Insofern sind Gesetze immer schon auf diese Bereiche konkretisiert.

Für diese Bereiche gilt:

"Das Gesetz sagt, was möglich ist, nicht, was realisiert wird" (Havemann 1990a, S. 129).

Das Newtonsche Grundgesetz beispielsweise beinhaltet die möglichen Bahnen von Körpern - eine reale Bahn ergibt sich erst durch zusätzliche konkrete Anfangsbedingungen. Die möglichen Bahnen gehen jedoch "mit Notwendigkeit aus der Wirklichkeit hervor" (Havemann 1990a, S. 126).

Bloch sagt dazu: "Auch das Kann-Sein ist gesetzlich" (Bloch 1962/1985, S. 172). Die als Anfangs- und Randbedingungen einwirkenden Faktoren sind nicht allgemein, deshalb nicht selbst Inhalt des Gesetzes.

"Für die strenge Gesetzmäßigkeit der Natur genügt es immer, daß die in ihr liegenden Möglichkeiten und Chancen ihrer Verwirklichung gesetzmäßig sind... Vorherbestimmt sind nur die immer neu sich entwickelnden gesetzmäßigen Möglichkeiten des Geschehens"(Havemann 1990a, S. 41).

Im Gesetz selbst sind jedoch nicht nur die abstrakten formellen Möglichkeiten (das, was keinen Widerspruch enthält) enthalten, sondern physikalische Gesetze beziehen sich auf die Realität in dem Sinne, daß ihre Größen und Relationen immer einen Bezug zu konkreten Wirklichkeitsbereichen haben. Schon ihn ihnen steckt ja z.B. die Meßbarkeit. Gesetze vermitteln zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit.

Gesetze stellen keine konkreten Prozesse oder Erscheinungen dar, sondern deren wesentliche und allgemein-notwendige Struktur-, Bewegungs- und Entwicklungszusammenhänge. Diese bestimmen nicht das Verhalten der Prozesse, sondern stecken den Rahmen von Verhaltensmöglichkeiten ab, bzw. halten ihn offen. In diesem Sinne sind sie auch ahistorisch - eben allgemein, nicht auf ein konkretes historisch verortbares Ereignis bezogen.

Der Statistische Gesetzesbegriff

Angesichts der oben ausgeführten Bezugnahme auf das System-Element-Verhältnis können wir die "innere Struktur" Gesetz von Gesetzen genauer untersuchen. Im Statistischen Gesetzesbegriff nach Hörz wird das Systemverhalten auf die Gesamtheit der Bedingungen bezogen, das Elementverhalten auf dieser Ebene als nur partiell bedingt betrachtet.

Das statistische Gesetz wird bestimmt als "allgemein-notwendiger und wesentlicher Zusammenhang, der

  • für das Systemverhalten eine Möglichkeit bestimmt, die (als Tendenz) notwendig verwirklicht wird (dynamischer Aspekt),
  • wobei für das Verhalten der Elemente ein objektives Möglichkeitsfeld existiert, aus dem eine Möglichkeit (bedingt) zufällig verwirklicht wird (stochastischer Aspekt: bezüglich möglicher Übergänge im Möglichkeitsfeld),
  • für die eine gewisse Wahrscheinlichkeit existiert (probabilistischer Aspekt: bezüglich bedingter Zufälle)" (Hörz/ Wessel 1983, S. 108).

5. Mögliches, Gesetzmäßiges und unser Handeln

Das Gesetz erfaßt nicht den konkreten Prozeß mit jeweils konkreten Bedingungsgesamtheiten, sondern zeigt nur das unter bestimmten Bedingungen Mögliche. Diese Beschränkung eröffnet uns die Möglichkeit, Bedingungen und Mögliches in Bezug zu setzen und in unserer Praxis bewußt zu verändern. Wir können die Bedingungen verändern – wir können bestimmen, welche Bedingungen wir (im Rahmen unfassender Möglichkeiten) setzen und welche gesetzmäßig gegebenen Möglichkeiten dadurch realisiert werden können oder nicht.

Die Aufgabe der Wissenschaft besteht dabei darin, Möglichkeitsfelder theoretisch zu begründen (Richter 1988, S. 25). Unser Tun wird uns von ihr dann nicht vorgeschrieben. Die Welt zu verändern, bleibt unsere Tat - "Wir gestalten und verändern die Welt, indem wir ihre Möglichkeiten ändern" (Havemann 1990b, S. 72).

 

Literatur:
Bacon, F.
(1870), Franz Baco's Neues Organon. Übersetzt, erläutert und mit einer Lebensbeschreibung des Verfassers versehen von J. H. von Kirchmann, Berlin: L. Heimann
Bloch, E., (1959/1985), Das Prinzip Hoffnung, 3 Bände, Frankfurt am Main 1985
Bloch, E., (1962/1985), Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel, Frankfurt am Main 1985
Fichte, J. G. (1800), Die Bestimmung des Menschen. Leipzig 1976
Havemann, R., (1990a) Dialektik ohne Dogma? Aufsätze, Dokumente und die vollständige Vorlesungsreihe zu naturwissenschaftlichen Aspekten philosophischer Probleme, Berlin, hrsg.v. D. Hoffmann
Havemann, R. (1990b), Die Stimme des Gewissens. Texte eines deutschen Antistalinisten, Hamburg
Hegel, G., W., F., (1807/1988), Phänomelogie des Geistes, Hamburg
Hegel, G., W., F., (1814/1986) , Wissenschaft der Logik. Zweiter Teil, Frankfurt am Main
Hegel, G., W., F., (1830/1986), Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Erster Teil, Frankfurt am Main

Hoffmeister, J. (1955), Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg
Holzkamp, K. (1985), Grundlegung der Psychologie, Franfurt/New York
Hörz, H., (1980) Zufall - eine philosophische Untersuchung, Berlin
Hörz, H., Wessel, K.-F., (1983) Philosophische Entwicklungstheorie, Berlin
Merchant, C.(1994) Der Tod der Natur. Ökologie, Frauen und neuzeitliche Naturwissenschaft, München
Röseberg, U., (1975) Determinismus und Physik, Berlin
Rudolph, I. (1998), Umbrüche und ein drittes Kind, Frankfurt
Schlemm, A. (1996a), Daß nichts bleibt, wie es ist... Philosophie der selbstorganisierten Entwicklung. Band I: Kosmos und Leben, Münster
Schlemm, A. (1996b), Ich bin Ich! Johann Gottlieb Fichtes Schrift "Die Bestimmung des Menschen"
Schlemm, A. (1996c), Friedrich Wilhelm Joseph Schelling
Schlemm, A. (1997/98), Zufälliges, Ganzheitliches und Gesetzmäßiges
Schlemm, A.(1999), Utopien nach den Bomben auf Jugoslawien? Philosophische Dialektik im Spannungsfeld zwischen militantem Pessimismus und militantem Optimismus. In: Naturwissenschaftliches Weltbild und Gesellschaftstheorie. Evolution in Natur und Gesellschaft - Gemeinsamkeiten und Gegensätze, Leipzig, S. 103-123
Zimmermann, R., E. (1993): Naturproduktivität und Innovation. In: Vorschein 13/14 (1993), 93-142.


siehe auch

 

 

 

Dieser Text kann online diskutiert werden als Open-Theory-Projekt unter:
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