Umfassende Bereiche:
Mein erstes ernsthaftes philosophisches Thema vor ca. 6 Jahren
war der Gesetzesbegriff. Das hing damit
zusammen, daß ich tiefer verstehen wollte, was in derGesellschaft geschieht.
Worin Wissenschaftlichkeit bei der Betrachtung und Gestaltung
der Gesellschaft besteht, ist genauer zu hinterfragen als in der
Naturwissenschaft, wo die Traditionen gefestigter sind und eine
neue Theorie auf der alten aufbaut - das Gesetzesverständnis
selbst kaum hinterfragt wird. Für das Verstehen der Gesellschaft
war das aber nicht so einfach vorauszusetzen.
Dieses Thema wies aber über sich hinaus. Gesetze sind ja
nicht der Gesellschaft "von oben" vorgeschrieben, sondern
verändern sich selbst mit. Außerdem habe ich selbst
ein Interesse an einem Durchbrechen der jetzigen Gesetzmäßigkeiten
der gesellschaftlichen Entwicklung. Deshalb erweiterte sich mein
Thema hin zur "Philosophie der Entwicklung".
Traditionell ist "Entwicklung" bei mir positiv besetzt
und bedeutet gleichzeitig Fortschritt, Humanisierung, Emanzipation.
Die Spirale, die von der Urgesellschaft als Ur-Kommunismus ausgeht,
sich über die Ausbeuter- und Klassengesellschaften windet
und auf höherer Ebene zu einer neuen Gemeinschaftlichkeit
im Kommunismus "zurück-"führt, ist mir seit
dem Staatsbürgerkundeunterricht vertraut.
Inzwischen ist mir bewußt, daß erstens das Ankommen
in der Utopie nicht vorherbestimmt ist, daß die Spirale
zweitens vielfältige Verzweigungen aufweist und daß
drittens nicht alle Wege "nach oben" führen, sondern
auch "Stagnation" und "Regression" in das
Gesamtbild gehören.
In der Gesellschaft vollziehen sich jegliche Prozesse nicht automatisch,
sondern vermittelt über bewußte Taten von Menschen.
Spätestens an den Verzweigungspunkten gibt es Entscheidungen
zu treffen. Auch zwischendurch werden Bedingungen geschaffen und
verändert, die den Weg bestimmen. Die Suche nach Wissen dient
hier also der bewußten Orientierung. Auch unbewußtes
Sein ist ständige bedingungsverändernde Tätigkeit.
Den Menschen zeichnet die Fähigkeit zur bewußten Reflexion
aus - und die will ich auch nutzen.
Deshalb versuche ich neben direkten gesellschaftspolitischen und
-theoretischen Studien (und Praktiken) die Erfahrung aus anderen
Realitätsbereichen einzubeziehen. Entwicklungsprozesse vollziehen
sich nach Prinzipien, die in allen Bereichen bezüglich ihrer
Strukturen vergleichbar sind. Aus diesem Grunde ist die Erfahrung
aus der Kosmologie und der Biologie über die Art und Weise
des "Abwirtschaftens des Alten", der Entstehung von
Neuem nicht uninteressant. Verallgemeinert werden diese Erfahrungen
teilweise durch sog. Allgemeinwissenschaften wie Kybernetik oder
Synergetik, Autopoiese- und Selbstorganisationskonzepte. Allerdings
bleiben diese Bemühungen oft auf der Stufe der "Etikettierung"
eines gesellschaftlichen Phänomens mit einem allgemeinwissenschaftlichen
Begriff stehen. Ein bewußter und nicht nur "kurzschlüssiger"
Umgang mit diesen verallgemeinerten Erfahrungen erfordert die
tiefergehende "Anstrengung des Begriffs" im Rahmen der
Philosophie.
Eine derart entstehende "Philosophie der Entwicklung"
gibt mir einen geeigneten Hintergrund für gesellschaftstheoretische
Überlegungen. Z. B. relativieren sich damit sofort dogmatische
Interpretationen des "Marxismus-Leninismus". Auch das
Gerede über ein "Ende der Geschichte" wird damit
obsolet. Philosophie erfordert jedoch ein Hinterfragen des eigenen Standpunktes. Noch dazu, wenn man wie ich direkt auf politische Orientierungen aus ist, kommt der politischen Praxis ein großes Gewicht zu.
In dieser gibt es zum Thema "Entwicklung" vielfältige
Diskurse im Rahmen der sog. "Entwicklungs-Politik"
für die "Dritte Welt" und innerhalb der frauenpolitischen
Diskussion. Der "Dritten Welt" und den Frauen wird oft
nahegelegt, sich "nachholend" zu entwickeln, sich auf
die Stufe der von den Männern in den industrialisierten Ländern
schon erreichten "Zivisationsstand" hochzuarbeiten.
Der Maßstab für "Höherentwicklung" sind
die Industrieländer und innerhalb dieser das Leben der Männer
ohne Behinderung der "Selbstverwirklichung" durch "primitive"
reproduktive Tätigkeiten wie die Kindererziehung, das Aufwaschen,
das Wohnung sauber halten, die Ernährung usw.
Dieses Denken steckt tatsächlich auch im Marxismus, wenn
auch Marx andeutet, daß das Ziel der Emanzipation in einer
neuen Einheit mit der Natur und gemeinschaftlichen Verhältnissen
besteht, die man durchaus teilen kann. Die Verherrlichung der
Industrie, die Abwertung des Handwerks als altmodisch usw. sind
jedoch wesentlich enthalten. Es wird auch keine dialektische "Rück"-kehr
zu alten nicht-entfremdeten Arbeitsformen als möglich erachtet.
Dieses Erbe schleppen die "Linken" heute mit, wenn sie
bei ihren Forderungen nach Ökologisierung und Humanisierung
auf dem jetzigen Stadium der "Zivilisation" bleiben
wollen, die "Moderne" nur noch ein wenig reformieren
wollen.
Während in der Mitte dieses Jahrhunderts diese nachholende
Entwicklung das vorherrschende Denkschema für "Entwicklungs-Hilfe"
und "Frauen-Emanzipation" waren, so zwangen die Erfahrungen
zu der Erkenntnis, daß dieses Nachholen nicht möglich
ist. Im Gegenteil: die Entwicklungen der derzeitigen "Zivilisation"
beruht selbst auf der Unterdrückung der Potenten von innerer
und äußerer Natur und Frauen.
In der "Dritten Welt" spitzen sich diese Unterdrückungen
zu - so daß die Unmöglichkeit und die Unerwünschtheit
des Nachholens hier am deutlichsten wird. Auch in der Praxis gibt
es hier die meisten realen Kämpfe von Menschen (und hier
vorwiegend der Frauen) gegen eine weitere Ausbeutung, Enteignung,
Unterdrückung (Mies/Shiva 1995).
In eher feministischen und entwicklungspolitischen Diskursen will
man deshalb mit der "Entwicklung" möglichst nichts
zu tun haben - dieser Begriff ist negativ besetzt. Das ist für
mich nicht gerade ein kleines Problem, denn meine ganze "Philosophie der Entwicklung"
(Schlemm 1996) soll ja eigentlich Vorarbeit für fortschrittliche
Bewegungen liefern.
Es ist also für mich nötig, die Vorwürfe genauer
zu untersuchen. Vielleicht provoziert die Kritik zu einem tieferen
Verständnis.
Die Entwicklung des Nordens erfolgte immer nur auf Kosten des
Südens (und der Ausbeutung der eigenen Bevölkerung,
aber diese Kapitalakkumulationsquelle reicht nicht aus, sondern
der Kapitalismus kolonisiert immer neue Bereiche bis hinein in
die Körper und Gene der Lebewesen). "Wirtschaftswachstum
wird durch die Übernutzung natürlicher Ressourcen ermöglicht"
(Mies/Shiva S. 355). Diese Einschätzungen haben verschiedene Aspekte: 1. Tatsächlich beruht jeder Entwicklungsprozeß auf dem Verbrauch von Energie von außen und dem Export von Entropie ("wertloserer" Energie). Diese Bedingungen sind prinzipiell durch die Sonneneinstrahlung auf unserem Planeten gegeben. Alles Leben lebt von den Kreisläufen der eingestrahlten Sonnenenergie, die bis hin zur Wärmeabgabe "entwertet" wird.. Die ökologischen Vernetzungen ermöglichen eine Ko-Evolution aller Lebewesen, nicht etwa ein "ewiges ökologisches Gleichgewicht". Jede Lebensform lebt dabei in gewissen Aspekten "auf Kosten" anderer - gibt aber selbst etwas zurück, durch dessen Nutzen andere leben. Insgesamt wird die Dynamik durch die Sonnenenergie "getrieben", bzw. läuft auf deren "Kosten" ab.
2. Auch
die Menschen leben als Lebewesen stets "auf Kosten"
der Sonne.
All die bisherigen Überlegungen berücksichtigten allerdings
lediglich die quantitative Physik der Energie und Entropie. Wesentlicher
jedoch sind die qualitativen Veränderungen und Umwandlungen
in diesem gegebenen Rahmen. Jedes Da-Sein reproduziert sich durch
prozeßhafte Tätigkeiten. Diese Prozesse verändern
innere und äußere Bedingungen irreversibel. Dies ist
die Grundlage für Entwicklung.
Auf dieser Basis kommt es neben stagnativen Prozessen und Regressionen
auch dazu, daß sich ständig völlig neue Seins-Weisen
der Natur etablieren. Diese neuen Formen haben andere wesentliche
Zusammenhänge (Gesetze), die qualitativ anders mit den physikalischen
"Kosten" umgehen. Sie entsprechen den jeweiligen entstandenen
neuen Bedingungen. "Alte" Formen verlieren ihre Existenzgrundlagen.
Diese Historizität vollzieht sich im Vollzug der existenzsichernden
Prozesse immer mit.
Menschliche Arbeit kann die Gesetze der Physik nicht außer
Kraft setzen. Die Arbeitkraft der Menschen ist jedoch in der Lage,
qualitative Veränderungen zu erzeugen, die über einen
Ersatz der zur Reproduktion benötigten Güter hinausgehen.
Die Arbeitskraft als Erzeuger von Mehrwert ist deshalb
nicht nur im engen wert-ökonomischen Sinn wesentlich, sondern
viel eher in qualitativer Hinsicht wesentlich. Insofern
hat die menschliche Gesellschaft eine weitere Quelle für
Entwicklung: nicht nur das biochemische Aufbrauchen und Umwandeln
von Energie in biologische Ordnungsstrukturen - sondern die gestaltenden,
kreativen Kräfte der Menschen.
3. Jede Gesellschaftsform hat
spezifische Verhältnisse zwischen den Menschen und zur äußeren
Natur. Die konkrete Ausgestaltung dieser Verhältnisse bestimmt
die qualitativen Zusammenhänge.
Ob der Kapitalismus auf unserer Erde ohne Alternative war, mag
dahingestellt bleiben. Der historische Weg der Menschheit führte
jedenfalls über ihn. Es kann vermutet werden, daß zumindest
seit vielen Jahrzehnten seine weitere Entwicklung auf allen wesentlichen
Gebieten des Lebens eher Regression bedeutet als eine "Höher-"Entwicklung.
Diese Form seiner ständigen Bewegung/Veränderung ist
also tatsächlich konsequent zu kritisieren und abzuschaffen-
was nicht bedeutet, daß es für die Menschheit keine
Entwicklung (im weiteren Sinne) geben dürfte.
Jedes Sein ist gleichzeitig eine Veränderung im Rahmen von
Entwicklungszyklen (dazu mehr in Schlemm 1996).
Dies entschuldigt den Mißbrauch dieses Begriffs für
weitere Ausbeutung innerhalb rechtfertigender Ideologien überhaupt
nicht. Das Kind sollte jedoch nicht mit dem Bade zugleich ausgeschüttet
werden.
Ein Hinweis im "Ökofeminismus" bezüglich
Hegel provozierte mich zum genaueren Nachlesen bei Hegel.
Ihn trifft hier der Vorwurf, daß Selbstbewußtsein
nur im Gegensatz zum Leben entstehen könne, daß das
jeweils Andere immer zum Objekt erniedrigt würde, daß
die Entwicklung des Einen nur auf Kosten des anderen geschehen
könne. Der Herr könne sich nur auf Kosten des Knechts
entwickeln, der Mann auf Kosten der Frau, die Industrie auf Kosten
der Natur (Mies/Shiva 292ff.).
Für diese Beispiele stimmt das unzweifelhaft. Ist damit aber
dem "ganzen" Hegel Genüge getan?
Völlig ohne Wertung (Ab-Wertung) des Einen oder des Anderen
geht es bei Hegel um das Verhältnis
von unterschiedlichen Teilen/Elementen/Momenten innerhalb einer
Einheit, bezüglich derer sie identisch sind. Jede Einheit
besteht aus mannigfaltigen Momenten, deren Wechselbeziehungen
erst die Einheit erzeugen. Jedes der Momente/Teile ist selbst
ein Ding mit der "Eigenschaft, dies oder jenes im anderen
zu bewirken und auf eine eigentümliche Weise sich in seiner
Beziehung zu äußern. Es beweist diese Eigenschaft nur
unter der Bedingung einer entsprechenden Beschaffenheit des andern
Dinges, aber sie ist ihm zugleich eigentümlich und seine
mit sich identische Grundlage." (Hegel, Wiss.dd.Logik II,
S. 134)
Jedes Ding hat also Eigentümlichkeiten (sein Wesen), die
sich aber nur realisieren unter der Bedingung der Anwesenheit
und spezifischen Eigenart eines andern Dings. Diese gegenseitige
Abhängigkeit ist nur eine andere (allgemein-philosophische)
Beschreibung für ökologische Beziehungsgeflechte, menschliche
Verhältnisse - für die einfache Tatsache, daß
kein Ding wirklich isoliert existiert.
Das Andere ist also wichtig für Jedes. Jenes ist für
das Andere genau so wichtig. Diese Gegenseitigkeit ist die Grundlage
für die Ko-Evolution, bei der die Möglichkeit gegenseitigen
Gebens und Nehmens gegeben ist. Die Voraussetzung dafür ist
übrigens eine Nicht-Gleichgewichtssituation, bei der kein
Null-Summenspiel passiert: Bei letzterem wäre jedes Nehmen
ein Verlust für den Anderen wäre - im Falle des Nicht-Geichgewichts
ist es typisch, das alle Beteiligten gewinnen können.
Für das Verständnis von Hegels Konzept der Entwicklung ist auch eine andere Stelle wichtig. Hegel unterscheidet zwischen unorganischen und organischen Einheiten. Beim Unorganischen stehen die unterschiedlichen Komponenten in der Einheit noch auseinander, so daß ein Teil nur mit einem andern Dinge zusammen die Vollständigkeit der Momente ausmacht (wie beim Verhältnis von Base und Säure). Die organische Einheit dagegen ist "ein in seiner Beziehung auf sein Entgegengesetztes sich erhaltendes (und entwickelndes A.S.) Ding" (Hegel, Phän. S. 178).
Tatsächlich ist jede sich entwickelnde Einheit im Hegelschen
Sinne eine organische Einheit, auch die nichtlebende ("anorganische")
Materie im Kosmos.
Hegels Dialektik der vereinigenden Synthese beinhaltet genau die
Erzeugung von Neuem auf Kosten des jeweils Alten, wobei sich aber
alle beteiligten Komponenten selbst verändern. Die historische
Situation der Veränderung einer Komponente (quantitatives
Wachstum des Kapitals) auf Kosten anderer (Naturqualitäten)
ist geradezu eine nicht-hegelsche Situation und keinesfalls seinem
Denken anzulasten. Daß Wachstums- und Industrie-Ideologien
dies anders sehen (sie sehen im Alten das Vor-industrielle) muß
uns nicht zu ihrer Nachfolge aufrufen, sondern zur angemessenen
Kritik mit Hegel. Hegel, G.W.F.: Wissenschaft der Logik, Band II Hegel, G.W.F.: Phänomologie des Geistes Mies, M., Shiva, V.: Ökofeminismus, Zürich 1995 Schlemm, A.: Daß nichts bleibt wie es ist... Philosophie der selbstorganisierten Entwicklung. Teil 1: Kosmos und Leben, Münster/Hamburg 1996
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