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Das Begreifen der Praxis

"Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit... nur unter der Form des Objekts ... gefaßt wird, nicht aber als... Praxis."

Ausgehend von dieser Marxschen Erkenntnis in der ersten These über Feuerbach wurde seit dem Tode von Marx eine marxistische Denk-Richtung entwickelt, die erstaunlicherweise nur in sehr kleinen Zirkeln weiterlebt. Für die "Philosophie der Praxis", wie sie seit Labriola genannt wird, ist es typisch, daß es nicht "die eine Lehrmeinung" gibt, sondern verschiedene Autoren verschiedene Begriffe in unterschiedlichen Bedeutungen akzentuieren. Eine einheitliche Zusammenfassung ist deshalb (noch?) nicht möglich. Jedoch sind die Grundstrukturen der Praxisphilosophie(en) so bedeutsam, daß ich aus einigen gelesenen Büchern dazu hier eine Zusammenstellung versuche.

1. Naturphilosophie

Nachdem ich mein erstes Buch im Sinne eines weiterentwickelten "Dialektischen Materialismus" geschrieben habe und mich dabei bemüht habe, auch viele "bürgerliche" Erkenntnisse und "revisionistische" Ansätze wenigstens kennenzulernen - um dann je nach konkreter Sachlage zu entscheiden, welchen Ansatz ich wie integrieren kann und welchen ich warum ablehnen muß - begegnet mir nun eine Theorie, deren Vertreter schon erst einmal meinen Grundansatz kritisieren. Die Praxis-Philosophen interessiert niemals die "Natur an sich" und ihre eventuelle Dialektik - für sie ist nur eine "Praxis" Gegenstand ihrer Theorie, die den Menschen bereits voraussetzt.

Der Praxisphilosoph Markovic schreibt:

"However, in the human world (with wich philosophy deals) all objective structures are, in one way or another, mediated by human activity and relative to it." (zit. in /2/, S. 70), Hervorhebung von mir).

MeinGegenargument, daß die Welt auch bis zur Entstehung des Menschen aus schöpferischer Materie bestand, wird von einem anderen Zitat außer Gefecht gesetzt:

"Die alte Frage, was die objektive Priorität hat, was "eher da war", Geist oder Materie... ist... schon in ihrer Stellung sinnlos. Gegeben ist stets nur das Dasein als geschichtliches In-der-Welt-sein..." (Marcuse nach /2/).

Dies widerlegt zwar nicht mein Argument, sieht es aber für die Aufgabe des Denkens als unwichtig an, weil sich dies nur auf die Fragen des Daseins innerhalb der menschlichen Praxis beziehe.

Das bedeutet für mich, daß für mein erstes Buch aus der Kenntnis der Praxisphilosophie kaum Anregungen, Kritik, Anstöße kommen können. Dies bestätigte sich beim Durcharbeiten der Texte auch. Innerhalb meiner Texte zu den einzelnen inhaltlichen Fragen werde ich jeweils genauer untersuchen, welche Ansätze, Begriffe und Konsequenzen sich aus den indirekten Hinweisen aus der Praxisphilosophie für das naturphilosophische Denken ergeben.

Trotzdem ist die Praxisphilosophie für mich wichtig. Es gibt interessante Resonanzen zu meiner Denk-Praxis. Tatsächlich war es mir ja zu Beginn meines Buches schwergefallen, die Philosophie als Wissenschaft vom Menschen methodisch überhaupt hineinzubekommen. Das ganze erste Buch befaßt sich mit der Kosmologie und der Biologie vor der Existenz des Menschen - inwieweit kann es dann überhaupt Philosophie sein, wenn für diese der Mensch zentral ist?

Innerhalb einer Wissenschaft von der "Stellung des Menschen in der Welt" ist es allerdings sicher legitim, erst einmal was zur "Welt" zu sagen, um die Fragen nach der Stellung des Menschen in dieser ordentlich zu fundieren. Auch das Menschsein sieht in einer schöpferischen Welt ganz anders aus als in einer "entropischen", auf ihren Starre-Tod wartenden. Ich habe den Menschen hineingebracht, indem ich Frage des "Anthropischen Prinzips" an den Anfang des Buchs gestellt habe. Damit habe ich zumindest eine menschliche Fragestellungen an die Kosmologie begründet.

Aus der Sicht der Praxisphilosophie mache ich trotzdem einen Fehler. Denn auch das Wissen über "die Welt" ist geprägt von der Praxis der Menschen. Dies ist mir seit spätestens einigen Jahren bewußt aus der feministischen Wissenschaftstheorie und Sohn-Rethels Interpretation durch Jens Scheer (hierin wird die Abhängigkeit der Erkenntnis von der Gesellschaft und auch vom Geschlecht nachgewiesen und entsprechend betont). Ich habe also kein absolut sicheres Wissen über "die Welt", auf das ich bauen könnte. Jeder Mensch und jede Gesellschaft stellt andere Fragen an die Welt. Er bekommt deshalb oft andere Antworten von derselben - durchaus unabhängig vom Bewußtsein existierenden - Welt.

Im Text selbst stelle ich dies selbst z.B. für die Kosmogonie fest. Die Daten sind so uneindeutig, daß Ambarzumjan oder seine Gegner recht haben könnten. Irgendwann erzwingt die reale Welt eine Entscheidung, läßt dann aber wieder vieles offen. Bis heute ist z.B. noch offen, ob die Quantifizierung seit Galilei ("alles messen, was zu messen ist und meßbar machen, was noch nicht meßbar ist") nicht überhaupt die Wissenschaft auf eine zumindest einseitige Fährte gelenkt hat, aus der wir noch lange nicht ausgeschert sind. Vielleicht war/ist noch eine ganz andere - qualitative - Wissenschaft möglich.

An dieser Stelle könnte ich nun beginnen, die Geschichte des Denkens zurückzuverfolgen. Z.B. könnte man den Entwicklungsbegriff und den Umgang mit ihm sicher interessant mit gesellschaftlichen Prozessen in Bezüge setzen.

Der Hinweis für mich aus der Praxisphilosophie ist also: Vielleicht hätte das zweite Buch (Gesellschaftsprobleme) zuerst geschrieben werden müssen - und die Naturphilosophie dann abgeleitet aus der jeweiligen Lebenspraxis. Vielleicht wird dies das dritte Buch??? - Dann werden die Inhalte aus meinem ersten Buch dialektisch aufgehoben - einerseits historisch und lebenspraktisch begründet, andererseits weiterentwickelt und genauer in heutige parteiliche Interessenlagen integriert.

I.Schmidt verdeutlicht die Subjektbezogenheit des Naturbegriffs. Natur ist für jedes Subjekt "bedingt durch das, was es selber ist, geprägt durch jenen Umgang mit der Natur, der ihm lebensgeschichtlich möglich war, seine individuelle, sedimentierte Naturerfahrung." (/5/ 13). Sie ist die "durch ihre Praxis vermittelte Wirklichkeit" (Givsan /5/ 46)

Jetzt habe ich schon wieder zwei Seiten zu nur einem Ansatzpunkt aus der Praxisphilosophie geschrieben. Anregend ist sie also auf jeden Fall.

2. Praxis und Wissenschaft

In der Philosophie der Praxis sind nicht mehr die "Welt" oder die "Materie" grundlegend sondern die "Praxis". Auch das traditionelle Primat von Geist oder Materie wird ersetzt durch das Primat der Praxis. Damit meint die Philosophie der Praxis die "Grundfrage der Philosophie" aufzuheben. In meiner Denk- und Lebenspraxis ist es allerdings durchaus nicht unwichtig, ob es "nur" die Materie ist, die schöpferisch Möglichkeiten zur Gestaltung enthält - oder ob da irgendein Geist die Einheit und Evolution der Welt garantiert. Natürlich kann mir das egal sein, wenn mich nur meine Alltags-Praxis mit seinen Problemchen interessiert. Aber für das das Menschsein bestimmende Übergreifende, Wissen-Wollende, Strebende ist es schon wichtig, wohin ich greife, wenn ich gestalten will. Gibt mir die Materie hier genügend Raum, oder muß ich mich auf einen Geist verlassen? Politisch ist diese Orientierung nicht ganz unerheblich.

Die grundlegende Differenz zwischen wichtigen alternativen politischen Orientierungen läßt sich schon noch auf eine "alte " Grundfrage zurückführen. Ist es primär notwendig, das Bewußtsein der Menschen zu verändern (um sie für neue, ökologisch verträgliche Lebensweisen zu öffnen), oder könnte es primär sein, die materiellen Machtverhältnisse zu verändern (Eigentumsordnung...), damit verändertes Sein dann auch das Bewußtsein verändert.

Die Marxsche Lösung, daß die Umstände und die Menschen sich gleichzeitig verändern müssen, deutet auf die Begrenztheit beider Alternativen und verbietet es, nach einfachen Lösungen auf jeweils nur einer Seite zu suchen.

Zumindest analytisch beim Begreifen der Praxis nutzt mir das Zurückführen von begrenzten politischen Praxen auf jeweils einseitige Konzepte im Rahmen der "Grundfrage" durchaus noch.

Andererseits: Wenn Menschen aus einer spirituellen, also eher aufs Geistige ausgerichteten Orientierung heraus praktisch etwas Vernünftiges machen (Öko-Dorf), so war es aus der Sicht der Praxis heraus tatsächlich unerheblich, ob sie "materialistisch" oder "idealistisch" denken.

Meine Praxis vermittelte mir jedoch öfters die Erfahrung, daß die eher aufs Geistige orientierenden Menschen eine andere Art Praxis machen, als ich sie mir als sinnvoll vorstelle. Wenn ich hinterfrage, warum ihre Praxis sich oft auf Einzelnes beschränkt (z.B. aufs Individual- oder Gruppenpsychologische) und andere Formen der Praxis nicht hinterfragt, kritisiert, bekämpft, ändert... (wie Profitorientierung, Eigentumsverhältnisse...), so finde ich die Ursache oft in der Beschränkung aufs Geistige, das die anderen Formen der Praxis prinzipiell dem Geistigen unterordnet.

Interessanterweise ist die Kritik des "Materialismus" in der Praxisphilosophie ausgesprochen beliebt. Eine ähnliche Kritik eines zumindest einseitigen "Idealismus" habe ich hier noch nicht gefunden. Vielleicht liegt das aber auch an der näheren Verwandtschaft zum Materialismus, die hier abgearbeitet wird.

Die Kritik des "Materialismus" hat aber nichtsdestotrotz einige bedenkenswerte Hintergründe. Bereits Gramsci kritisiert eine "Metaphysik der Materie" (Quaderni... 1489). Ein mechanischer Materiebegriff gibt tatsächlich einen Angriffspunkt für berechtigte Kritik. Wenn Materie als Träger der Gesetze den Menschen gegenübergestellt wird, ergibt sich die Konstellation, daß Menschen nur noch die materiellen Gesetze "befolgen" , maximal ausnutzen und "überlisten" dürfen.

Die Philosophie der Praxis betont demgegenüber die Unabgeschlossenheit der menschlichen Praxis, die Offenheit, Potentialität.

Weil der Materiebegriff selbst geschichtlich/praktisch i.a. mit einem dem Menschen fremd gegenüberstehenden Substratsbegriff gleichgesetzt wird, wird er beim Kritisieren meistens fallengelassen (ersetzt durch Praxis). Nur einem Ernst Bloch gestattet (kurzzeitig) man die Verwendung eines "dialektisch-potentialen Materie"-Begriffs. Ich finde alle Betonung der Potentialität auch in dem dialektischen Materiekonzept eines Teils der DDR-Philosophie. Daß sie drinsteckt, muß sich aber in der konkreten Verwendung stets beweisen und deshalb akzeptiere ich die Kritik der Praxisphilosophen als ständige Mahnung an mich.

Dies ist besonders bedeutsam bei der Frage, was Erkenntnis eigentlich bezweckt und bewirkt. Im mechanischen Materialismus "bildet" das Bewußtsein die objektive Materie "ab" wie ein mehr oder weniger exakter Spiegel. Es wurde auch erkannt, daß der Spiegel selbst eine Struktur hat und das Bild deformiert, was aber wieder materiell vermittelt ist. Schließlich wurde klar, daß das Ergebnis der Erkenntnis immer zumindest eine "Einheit von Abbild und Entwurf" (H.Ley) ist. In diesen "Entwurf" läßt sich dann die erkenntnistheoretisch-historische und gesellschaftlich-parteiliche Beeinflussung hineininterpretieren.

Die Praxisphilosophie verwirft das Widerspiegelungskonzept dagegen grundlegend. Für sie ist Erkenntnis eine "besondere, kreative Praxis" (/2/ 63), die den Lebensprozeß dauernd neu "aufs Konzept bringt" (/2/ 13). Wiederum wird hier richtigerweise die Offenheit betont.

Der Gegenstand ist nicht irgendeine fertige, sezierfähige Materiesubstanz, sondern "die immer historisch vermittelte, durch menschliche Praxis konstituierte Realität" (/2/ 42).

Die Spezifik der Erkenntnis wird hiermit weder ausreichend spezifiziert, noch "passen" die jeweiligen Begrifflichkeiten zueinander. An anderer Stelle wird Realität als "ergriffene oder zu ergreifende Praxis" (/2/ 32) definiert, was aus obiger Bestimmung macht: Der Gegenstand der Erkenntnis ist die...durch Praxis konstituierte ergriffene oder zu ergreifende Praxis. Außer dem Herauslesen der Betonung der Offenheit kann kann ich damit herzlich wenig anfangen. Die Besonderheit der erkennenden Praxis durch "Kognition" zu erklären, reicht auch nicht aus, weil dieser Begriff nicht begründet wird.

Trotz der unscharfen Begriffe ist das Ziel deutlich und akzeptabel: Das Ziel der Erkenntnis ist nicht das Vorliegen eines "Abbilds". Das Ziel besteht im "Begreifen der Praxis" zwecks erneuter schöpferischer Praxis. Auf diese Weise wird Wissenschaft nicht zum allumfassenden Lexikon des positiv Gegebenen, sondern zur "schöpferischen gesellschaftlichen Potenz" (/2/ 43).

Es geht nicht um eine Erklärung des Vorhandenen, sondern um Kritik mit einem Primat der Praxis (Schmied-Kowarzik in /1/ 21). Dazu wird in /5/ ein Unterschied im Wissenschaftsverständnis zwischen Marx (Kritik, Umwälzung, Befreiung, offene Entscheidungen der Menschen) und Engels (Zusammenfassung, Organisation, Planmäßigkeit, "Einbindung" der Menschen) diskutiert.

Der Sinn der Wissenschaft besteht (nach Marcuse) darin, wahre Erkenntnis aufzufinden, die Praxis freisetzt (nach /2/ 145).

Für die Erkenntnis gibt es insofern kein "Objekt", sondern der erkennende Mensch "muß das, woran er sich orientiert, gleichzeitig in Frage stellen" (Flego in /3/, S. 95).

Für die Philosophie kommt G. Petrovic schließlich sogar dazu, nicht eine Philosophie der Praxis weiterzuentwickeln, sondern zum Denken der Revolution weiterzugehen:

"Das bedeutet, daß der Philosoph erst dann auf der Ebene seiner Potentiale steht, wenn er das Schöpfen, die Freiheit, das Ändern der Menschen und der Welt - also die Revolution denkt."

Auf die Geschichte angewandt bedeutet dies, daß Wissenschaft nicht etwa eine "Prozeßordnung" der Gesellschaft aus der geschichtlichen Erfahrung herausfiltern kann, sondern immer nur konkrete Situationsanalytik (nach Gramsci) anleitet, die die Offenheiten und Bedingtheiten konkret analysiert.

Diese recht vagen Aussagen zur Wissenschaft erklären bisher nur, was die Praxisphilosophen damit wollen. Sie wollen keine Summe positiven Wissens über eine statische Welt/Materie, sondern die Wissenschaft soll begreifendes Eingreifen in die Praxis ermöglichen. Dies bedeutet, daß die Interessen der Menschen bewußtgemacht und offen eingebracht werden.

Zwar begannen alle Lehrbücher des "Marxismus-Leninismus" mit der Begründung der Parteilichkeit der "Weltanschauung der Arbeiterklasse", also der Offenlegung ihrer Interessen - aber in Form der "Einheit von Wissenschaftlichkeit und Parteilichkeit" war man überzeugt davon, daß nur die Interessen der Arbeiterklasse allein die "richtigen", "objektiven", "allgemeinen" waren. In der Praxisphilosophie wird die Praxis und Interessen aller Menschen ernstgenommen.

Über Absichtserklärungen hinaus ist dieser neue Praxis-Wissenschaftsbegriff jedoch noch nicht geführt worden.

Neben der Kritik betont H.Müller (/4/ 88) die konkrete Utopie im neuen Theorietypus seit Marx. Sie ergibt sich aus der Marxschen Methode, der Welt aus den Prinzipien der Welt neue Prinzipien zu entwickeln. Kritik bedeutet danach immer auch, versteckte, noch-nicht gekannte Möglichkeiten der aktuellen Welt ins Bewußtsein zu bringen. Deshalb hat die Kritik ihren Ausgangspunkt im Bestehenden und ihren Endpunkt außer ihm (vgl. Flego in /5/).

An verschiedenen Stellen berührt sich die Wissenschaftskritik der Praxisphilosophie mit der aus alternativen, vor allem ökologischen und feministischen Bewegungen. Die Praxisbezogenheit vereint sie - die genannten alternativen Konzepte stellen jedoch die Revolutionsforderung der Praxisphilosophie eher zurück und betonen die Wichtigkeit historisch bewährter partnerschaftlichen Weisheiten, die eher langsamen Verbesserungen von Züchtungen bei Kulturvölkern z.B. in Indien. Beide sind berechtigt und betonen jeweils verschiedene Aspekte des Entwicklungsprozesses (Phasen relativer Stabilität der Grundqualität und sprunghafte Qualitätsänderungen an notwendig erreichten kritischen Punkten, vgl. Selbstorganisationskonzept, Dialektik).

Ein weiterführender Ansatz deutet sich vielleicht an, wenn man Wissenschaft als Wesenserkenntnis definiert. Das Wesen der Dinge ist nicht nur eine den Dingen (der "Materie") einbeschriebene unbeeinflußbare Eigenschaft, sondern hängt wesentlich von den Wechselwirkungen der Dinge ab - damit von ihrem Eingebundensein in die Praxis des erkennenden und handelnden Menschen, der menschlichen gesellschaftlichen Praxis. Das Wesen enthält selbst den bewegenden Widerspruch. Entsprechend der jeweiligen Bestimmung von Praxis-Bereichen als Systemen, die durch eine Grundqualität/ ein Wesen charakterisiert werden, ist dann Wissenschaft möglich. Das Wesen umfaßt alle notwendigen Praxis-Perspektiven.

Auf diese Weise wird dann auch derGesetzesbegriff integriert, von dem M.Markovic in /3/ entsprechende Forderungen aufstellt, die meines Wissens nach am besten in der statistischen Begriffsbestimmung des Gesetzes von H.Hörz enthalten sind.

An diesen Stellen sehe ich überhaupt keinen Grund, von den in meinem Buch angeführten Argumentationen abzugehen. Man könnte zwar ständig auf die Praxisphilosophie gemünzte Kommentare einfügen, aber inhaltlich würde es keine Änderungsnotwendigkeiten geben. Eine Abbildung zur Methodik habe im Manuskript allerdings noch etwas verändert, indem ich die Praxis die Theorie mit enthalten lasse und sie nicht einander gegenüberstelle.

3. Mensch und Praxis

Entscheidender und für mein zweites Buch grundlegend sind die tatsächlichen Aussagen zum Menschen und zur menschlichen Praxis. Ich hatte mich für die Vorbereitung der Methodik für das zweite Buch bisher ein wenig wie die Katze um den heißen Brei geschlichen. Letztlich entschied ich mich, das sich entwickelnde Mensch-Natur-Verhältnis als Ausgangspunkt zu nehmen. Auf diese Weise gelangt der Arbeitsbegriff ins Zentrum und die jeweils historisch und kulturell bestimmte und bedingte Gesellschaftlichkeit leitet sich ab.

Jetzt hilft mir der praxistheoretische Ansatz dazu, diese Sachen zu integrieren. Es wird sicher auch einige konkrete inhaltliche Punkte geben, die ich übernehme.

Die Philosophie der Praxis - oder das Denken der Revolution - stellt den Menschen konsequent in den Mittelpunkt.

Menschliches Sein wird nach Petrovic bestimmt als freie, schöpferische Tätigkeit, durch die der Mensch seine Welt und sich selbst schafft.

Typisch für den Menschen ist dabei, daß er immer Neues schafft. Deshalb ist nicht nur der sich ständig selbst reproduzierende Prozeß "Praxis" für den Menschen wesentlich, sondern die qualitativ Neues schaffende Revolution (Petrovic).

Aus der Kenntnis der Naturdialektik heraus muß man allerdings feststellen, daß auch die Evolution der nicht-menschlichen Natur Möglichkeitsfelder umfaßt, daß Neues entsteht, daß jeder Bereich der Natur sich selbst und seine Umgebung beeinflußt und gestaltet. Das ist noch nicht das Neue des Menschen. Die spezifisch menschlichen Evolutionsprinzipien müssen genauer herausgearbeitet werden. Dies gilt auch für die folgende Bestimmung des Wesens des Menschen:

"Das Wesen des Menschen ist nicht das, was er schon ist, sondern das, was er noch werden kann." (G.Flego in /1/ 75).

Manchmal jedoch ist das, was er noch werden kann, eine "Negation der Negation" alter Fähigkeiten von Kulturvölkern zum partnerschaftlichen Zusammenleben mit ihrem "unorganischen Leib", der äußeren Natur. Darauf verweisen insbesondere die Ökofeministinnen, die in aktuellen Kämpfen um die Wälder, gegen Dammbauten z.B. in Indien besonders in den Frauen aktive und schöpferische Subjekte dieser Rückbesinnung sehen (/7/,/8/).

Diese Wesensbestimmung gilt für alle Materiebereiche - für den Menschen bewußt gemacht begründet es einen Optimismus. Der Mensch ist nicht der Urmensch, der er einmal war, nicht der Sklave, der er einmal war, und er ist auch nicht der Lohnarbeiter, der er heute ist. Er ist das, was er aus sich macht. Das kann man dem Menschen im Alltag schwer erklären, der aus sich selbst nichts macht. Aber in den tiefsten Tiefen verspürt auch er das Bedürfnis danach (Bloch weist dieses "Noch-nicht-Bewußte", den "Vor-Schein" im "Prinzip Hoffnung" auf vielfältige Weise nach). Aber meist werden diese Bedürfnisse jetzt noch kompensiert durch die Tätigkeiten und Fetische, die heute anscheinend den Menschen zum Menschen machen (Arbeitsethos, Dinge besitzen...).

Nach Bloch ist "der Mensch...invariant gerade als das sich ... stets überschreitende Wesen."

Daß die Menschen noch eine stärkere, qualitativ neue Potenz zur Freiheit haben als die nicht-menschliche Natur ist dann doch in ihrer Spezifik begründet. Der Mensch unterscheidet sich vom Tier dadurch, daß er die Mittel für sein eigenes Dasein und damit die Bedingungen für sein Existieren erzeugt. Er ist das einzige Wesen, das die meisten Bedingungen seiner eigenen Existenz selbst hervorbringt (G.Flego in /1/75).

Zusätzlich zu den allgemeinen Fähigkeiten des Lebendigen verfügt der Mensch über Bewußtsein und kann seine Autonomie so weit steigern, daß er die natürlichen Kräfte der Umgebung in zunehmendem Maße erkennt und kontrolliert. Er schöpft sich selbst mit einem zunehmenden Reichtum der Bedürfnisse (Markovic in /3/ 163).

Diese Aktivitäten des Hervorbringens sind aus der Sicht der Individuen Handlungen, aus Sicht der gesellschaftlichen Verhältnisse konstituieren sie die Praxis.

Der Praxisbegriff und die Bestimmung des Menschen gehören direkt zusammen. G. Petrovic schrieb dazu:

"Diese dem Menschen eigene Art des Seins bezeichnet Marx mit dem Wort "Praxis".

Der Mensch ist für Marx das Wesen der Praxis." (in: Wider den autoriären Marxismus, FaM, 1969, S. 73f.)

Praxis ist damit nicht nur ein "Kriterium für die Wahrheit", oder das Substrat einer "Veränderung als Machen". Es ist selbst die "schöpferisch-selbstschöpferische Tätigkeit des Menschen" (Flego in /1/).

Einige andere Definitionen aus den verschiedenen Texten will ich der Vollständigkeit halber noch anführen:

Praxis =

  • des Menschen eigene Art des Seins (Petrovic)
  • spezifisch menschliches Tun mit Synthesis-Charakter (H.Givsan in /3/ 53)
  • Gestalt, in der die Wirklichkeit lebensformbestimmt verfaßt und ausgefüllt ist (/2/35)
  • Sinn, der sich spontan im Schnittpunkt der Handlungen abzeichnet, durch die der
    Mensch seine Beziehungen zur Natur und zu den anderen Menschen organisiert
    (V.Descombes, zit. nach /2/ 73)...

Der Praxisbegriff will betonen, daß gesellschaftliche Strukturen nicht einfach als "Materielles" vorliegen, sondern stets und ständig als Prozeß gerade erst erzeugt werden. Jede Struktur ist ein Prozeß. Die Autopoiese betont dies für alles Lebendige; der "dialektische und historische Materialismus" wußte dies auch längst, hat es aber nicht sehr stark betont und alle Konsequenzen ausgearbeitet.

Mit der Prozeßsicht wird die Veränderbarkeit, das noch Offene, das noch Mögliche, das entstehende Neue besonders betont. Dies entspricht dem revolutionären Anspruch eher als das "Befolgen objektiver Geschichtsgesetzmäßigkeiten", das im herrschenden "ML" meist propagiert wurde. An dieser Stelle wird wieder deutlich: Alle die "neuen" Aspekte wurden von einigen Vertretern des "ML" durchaus vertreten und im Einzelnen bearbeitet - aber auf die herrschende Ideologie bekam dies keinen prägenden Einfluß. Trotzdem kann ich auf dieser Basis aufbauen. Meine bisherige Arbeit besteht in dem - Ernst Bloch bestätigenden - Nachweis, daß sogar die Natur/Materie ohne den Menschen schöpferisch und kreativ ist, ständig Neues erzeugt und stabilisiert. Neben dem Nachweis und als eigentlich Wichtigstes steht die Erkenntnis von typischen Prinzipien der Evolution (die Bloch noch nicht so genau kennen konnten und die ihn auch nicht so wesentlich interessierten), die auch noch für den Menschen gelten. Die Menschen als höchstes Entwicklungsprodukt der Natur entwickeln nun neue Evolutionsprinzipien, die durch die "natürlichen" (im Sinne von vor- und nebenmenschlichen) Prozesse nicht abgedeckt sind. Hier kommen neue Qualitäten der Offenheit in die Welt, die Bewußtheit, die Gefühle, die gesellschaftlichen Prozesse in Kultur, Arbeit - insgesamt der Praxis.

4. Praxis und Arbeit

Der Begriff der Arbeit und sein Bezug zum Praxisbegriff ist nur sehr ungenau bestimmt.

Das menschliche Wesen kann als bestimmt von der Arbeit oder von der Praxis dargestellt werden. Wird die Arbeit zur wesensbestimmenden Tätigkeit, so enthält sie die Inhalte, die ansonsten der Praxis zugeschrieben werden.

Die Praxisphilosophen dagegen verwenden die Praxis als wesensbestimmenden Prozeß und sehen als Arbeit nur jeweils konkrete Teilprozesse der Praxis an. Zusätzlich kommt noch eine begriffliche Unklarheit durch die mögliche Nicht-Unterscheidung von Arbeit und Lohn-Arbeit hinzu.

Arbeit ist begrifflich verbunden mit der Bestimmung, den "Stoffwechselprozeß der Menschen mit der Natur" zu realisieren. Auch Wissenschaft wird in diesem Sinne oft als "allgemeine Arbeit" einbezogen.

Lohn-Arbeit dagegen als historisch konkrete Form der Arbeit im Kapitalismus wird analysiert in ihrer doppelten Bestimmung als abstrakte und konkrete Arbeit. Da es um die Abschaffung des Kapitalismus geht, steht hierfür die "Befreiung von der (Lohn-)Arbeit" auf dem Plan. Dadurch wird der allgemeine Arbeitsprozeß "befreit" und diese Aktion erscheint als "Befreiung der Arbeit".

Schon diese Unterscheidung ist für politische Orientierungen wichtig. Der "Kampf um Arbeitsplätze" dient zwar kurzfristig der Existenzsicherung der Menschen innerhalb des Systems - verfehlt aber die Haupt-Richtung der Emanzipationspotenzen auf dem gegenwärtigen Stand der Kultur- und Technologieentwicklung der Menschheit.

Arbeit zur materiellen, kulturellen und geistigen Reproduktion der menschlichen Gesellschaft wird es immer geben. Von dieser kann sich die Menschheit nicht befreien. Allerdings wäre es auch nicht befreiend, die notwendige Arbeit wieder "langsamer und mit mehr Muße" zu verrichten und die Lebens-Zeit der Menschen damit vollzufüllen. Menschen sind keine Wesen im immergleichen Kreislauf, sondern sie akkumulieren Kultur, um Neues zu schaffen, sich und ihre Umwelt schöpferisch umzugestalten. Dazu muß die (jeweils historisch bestimmte) notwendige Arbeit zurückgedrängt werden, Freiräume für den "wirklichen Reichtum", die "freie Zeit" müssen ermöglicht werden (neue Lebens-Arbeits-Zeit-Modelle z.B. in USA: halbjährl. Wechsel von Arbeit und Freizeit verändertes Freizeitverhalten, Wachstum von Kreativität...)..

Den Arbeitsbegriff allein als wesensbestimmend für den Menschen darzustellen, wirft die Frage auf, daß ja dann alles, einschließlich der wirklichen Muße- und Träumerstunden unter Arbeit zu verbuchen wäre, denn auch diese sind wesentlich fürs Mensch-Sein.

Deshalb neige ich dazu, im Praxisbegriff den allgemeineren, das Wesen des Menschen bestimmenden zu sehen. Die Bevorzugung des Arbeitsbegriffs ist sicher noch ein Reflex auf den eingefleischten protestantischen Arbeitsethos.

Der Praxisphilosoph Kangra begründet die Unterordnung der Arbeit unter die Praxis auch damit, daß der Mensch, wäre er nur ein Arbeitswesen, schon vollendet wäre. Die Praxis betont das Offensein (nach /3/ 104).

Daß diese Formen des Tätigseins unterschieden werden müssen, untersucht auch Hannah Ahrendt. Für sie ist die Arbeit der biologisch-ökologisch notwendige Stoffwechsel mit der Natur. Das Herstellen als Verbessern der Natur durch Artefakte und "widernatürlicher" Eingriff bezieht sich auf geschichtliche Bedürfnisse und erst das Handeln ohne Zwecke und Erwartungen
weist ins Offene des noch möglichen Beginnens von Neuem.

Meine Zusammenfassung der auch von mir unterstützen Intentionen dieser Unterscheidungen hat ungefähr dieses Ergebnis:

Praxis umfaßt alle schöpferisch-menschlichen Tätigkeiten, auch ohne Zweck und Absicht, ohne Wertschöpfung oder nachzuweisende Nützlichkeit für den Einzelnen oder andere. "Freiheit ist das wesentliche Kennzeichen der Praxis." (Markovic in /3/ 163).

Arbeit im allgemeinen Sinne ist notwendig zur einfachen und erweiterten Reproduktion des materiellen und kulturellen Lebens - ist jedoch zweckgerichtet, absichtsvoll, nützlich für den Einzelnen und andere.

Eine spezielle, historisch konkret bestimmte Form der Arbeit ist die Lohn-Arbeit, bei der die objektivierbaren Teile der (subjektiven) Arbeitskraft verdingt/(verkauft?) werden.

Übergänge zwischen diesen Tätigkeiten existieren immer. Lohn-Arbeit kann (muß aber nicht immer) auch nützlich sein, Arbeit und sogar manche Lohn-Arbeiten können Aspekte der Freiheit enthalten und verwirklichen. Jedoch kann auch der Zwang zur Verdingung der Arbeitskraft den subjektiven Teil der Fähigkeit, zu arbeiten und zu leben, empfindlich deformieren und zerstören.

Die aktuellen Möglichkeiten (aufgrund des erreichten Entwicklungsstands der menschlichen und technischen Produktivkräfte) enthalten jedoch die Befreiung von der Lohn-Arbeit und damit die Befreiung der Arbeit. Menschliches Leben vergrößert auch die Freiräume der nicht-arbeitsbezogenen Lebens-Praxen. Dieses sind die Horizonte der Emanzipation.

Die Relativierung der an Zwecke, Werte und Nutzen gemessenen Arbeit zeigt sich in einer konsequenten Kritik des Primats der Ökonomie.

Zur Kritik der Ökonomie werden von den Praxisphilosophen verschiedene Vorschläge gemacht.

1. wird in diesem Sinne tatsächlich nicht nur die kapitalistische Ökonomie kritisiert, sondern den Zustand, daß die Ökonomie das Leben der Menschen primär bestimmt.

Das Leben soll sich gerade nicht der Ökonomie unterwerfen - sondern die Ökonomie soll von der Gesellschaft bewußt gestaltet werden.

In den staats-sozialistischen Ländern diente genau dieser Hintergrund dem Argument des "Primats der Politik vor der Ökonomie", das als Vorwand für dirigistische Eingriffe der Partei genutzt wurde, aber in seiner ganzen Bedeutung niemals akzeptiert wurde.

In der Evolution der Menschheit gibt es wie in jeder Evolution verschiedene Etappen. Das "Reich der Notwendigkeit" erzwang den Vorrang der Ökonomie angesichts allgemeiner Knappheit aus Gründen unentwickelter menschlicher und technischer Produktivkräfte (wobei auch dies noch genauer und konkret zu untersuchen wäre. Es stimmt auf jeden Fall nicht für alle Zeiten und alle Gegenden der Welt, also nicht für die gesamte Menschheit). Wie jede Evolution gelangt diese Art des prozeßhaften Seins aber an selbsterzeugte Schranken, die mit dem gegenwärtigen Stand der Produktivkraftentwicklung längst erreicht sein sollten. Die Menschen könnten mit wenigen Stunden notwendiger lebendiger Arbeit pro Woche/ Monat die historisch und kulturell bestimmten materiellen Bedürfnisse befriedigen. Das "Reich der Freiheit", in dem der wirkliche Reichtum in freier Zeit (die wir uns ja alle wünschen) besteht, wäre bereits möglich. In diesem Sinne propagiere ich auch die "Befreiung von der Arbeit". Hier ist also die Orientierung an der Ökonomie, der Effektivität usw. insgesamt zu kritisieren.

2. Damit hängt auch zusammen die Frage, ob es nur das Abpressen und die Enteignung von Mehrwert ist, die als Ausbeutung zu kritisieren und aufzuheben ist - oder ob die gesamte Vergesellschaftung über den Wert zu kritisieren ist. Die Werterzeugung ist in der ersten großen Etappe der Menschheitsentwicklung, dem "Reich der Notwendigkeit" der Prozeß, in dem sich die Gesellschaft strukturiert. Dies bedingt eine Entfremdung von den nicht mit Wertgrößen belegten Aspekten des Menschseins, den nicht verwerteten Bedürfnissen und Fähigkeiten. Für die Menschheit besteht jetzt also nicht nur die Aufgabe der Beseitigung der Enteignung des Mehrwerts auf Grundlage der Trennung von Arbeitskräften und Produktionsmitteln, sondern sich vom Diktat der Werterzeugung insgesamt zu trennen.

Dies steht in einem engen Zusammenhang dazu, daß die gerade an ihre Schranken stoßende Vergesellschaftungsform nicht nur als Kapitalismus zu kritisieren ist, sondern als dem Kapitalismus wie dem Staats-Sozialismus gleichermaßen zugrundeliegende Fetischisierung des Werts. Diese Vergesellschaftung beruht technologisch auf dem Industriesystem, das ebenfalls in Form einer Negation der Negation zu kritisieren ist.

"Die Anerkennung (dessen, was die Industrie für die Geschichte bedeutet) ist dann zugleich die Erkenntnis, daß ihre Stunde gekommen ist, abgeschafft zu werden oder die materiellen und gesellschaftlichen Bedingungen aufzuheben, innerhalb deren die Menschheit als ein Sklave ihre Fähigkeiten entwickeln mußte... " (Marx: Kritik des nationalen Systems der politischen Ökonomie von Friedrich List, Berlin 1972 (Archiv-Drucke 1), S. 28f.)

3. Von verschiedenen Autoren wird diskutiert, daß die Arbeitskraft als subjektive Seite der Produktion (Subjekt: produzierend sein) keine Ware (Produkt = Objekt) sein kann. Im Arbeitsvertrag kauft der Kapitaleigner nur die Objektseite der Arbeitskraft, nicht die gesamte "Fähigkeit, Arbeit zu leisten" (W.Sesink, /1/ 386). Dies entspricht ganz gut meinen persönlichen Gefühl: ich verkaufe doch nicht Mich, sondern nur einen Teil von mir, den Teil, den der Bezahler gebrauchen kann. Und das ist nicht das Wichtigste meiner "Fähigkeit, Arbeit zu leisten". Dieses behalte ich schön für mich und wende es in der Freizeit an.

4. Marx kennzeichnete die Natur als wichtige Voraussetzung aller Produktion, als "unorganischen Leib" des Menschen. Als Produzent des Mehrwerts erkannte er jedoch nur die menschliche Arbeitskraft selbst an. Die Natur nicht nur als passives Objekt der Natur-Aneignung des Menschen, sondern als Mit-Produzent im Blochschen Sinne motiviert jedoch eine Einbeziehung der Natur in die Mehrwertschöpfung (H.Immler in /3/). Die Kritik der politischen Ökonomie bekommt dann wesentliche Ergänzungen (vgl. auch Altvater, Tjaden...).

5. Nicht nur die Lohn-Arbeit steht dem Kapital als ausgebeutete Arbeit gegenüber. Die Mehrheit der Menschen, nämlich die Frauen, speziell im Trikont, haben nie die Chance, über feste Arbeitsverträge wenigstens ihre Reproduktionskosten als Lohn zurückzuerhalten für ihre Arbeit. Auch innerhalb der kapitalistischen Länder wird genau diese privilegierte Form der Ausbeutung gerade massiv abgeschafft (neue "Selbstständigkeit", strukturelle Massenarbeitslosigkeit, Diskurs über "überflüssige" Menschen...).

Als Positivum spricht H.Müller der nichtindustriellen Dienstleistungstätigkeit die Möglichkeit zu, die industrielle Arbeit eines Tages usurpieren zu können (/2/). Allerdings bleibt er damit innerhalb der Verwertungslogik.

6. Der Widerspruch zwischen mehrwerterzeugender Arbeitskraft und dem enteignenden Kapital schien für Marx in Form von zwei soziologisch vorliegenden Klassen vergegenständlicht (ontologisiert) zu sein. Tatsächlich jedoch könnte es so sein, daß die Klassen nur "verschiedene Funktionsträger ihrer gemeinsamen historischen Basisform" (R.Kurz in /1/ 162) darstellen. Letztlich produziert die Arbeitskraft das Kapital (ein Generalstreik würde das sofort beenden).

"Nur wer das Kapital produziert, kann auch damit aufhören. Aber wenn er sich mit dem Kapitalzweck identifiziert, kann er doch nicht damit aufhören." (W.Sesink in /1/ 387)

Die neuen Aussichten auf ein historisches "Recht auf Faulheit" lassen es überhaupt als verfehlt ansehen, in den Arbeitern allein ein schöpferisches Potential zu sehen.

Das bisherige Trägersubjekt für die Revolution, die Arbeiterklasse, geht damit in dieser Form verloren. Neue Befreiungsbewegungsformen und -subjekte (zu Subjekten siehe 4.: Menschen, die Naturinteressen vertreten und 5.: Frauen, Dienstleistungssphäre; zu Formen: siehe Netzwerke, gewaltfrei-anarchistische Theorien...) müssen als solche überhaupt erst einmal erkannt werden. Auch die Einbeziehung der Natur-Interessen - nicht nur in ihrer Eigenschaft als Voraussetzung menschlicher Produktion, sondern als aktives Subjekt einer möglichen Mensch-Natur-Technik-Allianz (Bloch, Das Prinzip Hoffnung, ca.S.805-813) verändert die Sicht auf die gesellschaftlichen Kräfte.

Diese Konsequenzen praxisphilosophischen Denkens berührten natürlich den Kern des Machtanspruchs der führenden Kader der Arbeiterbewegung - und führten zum Anti-Kommunismus-Vorwurf. Aus der heutigen Sicht sollte eine vorurteilslose Arbeit an den Sachfragen selbst möglich sein. Notwendig ist sie auf jeden Fall.

5. Politische Praxis

Praxis ist prinzipiell nicht nur der Prozeß der sich selbst stabilisierenden Rückkopplungs, sondern ist "bestimmte Negation der bestehenden Wirklichkeit" (H.Givsan /3/ 57). Einen der Hauptvertreter der Praxisphilosophie führte diese Erkenntnis auch zu einem konsequenten Denken der Revolution (Petrovic).

Da die bestehende Wirklichkeit einerseits im realen Kapitalismus wie auch im Staats-Sozialismus zu kritisieren war, besteht die politische Praxis vorwiegend in der theoretischen wie praktischen Kritik dieser Gesellschaftsformen.

Eine Einheit ergibt sich aus der Einheit der Ökonomie beider Formen, die in der Wert-Vergesellschaftung und der Zentralität von Ökonomie und technologisch-organisatorisch im Industriesystem liegt bzw. lag. Aus dieser Sicht war Marxens Utopie "irreal, von Anfang an.

Eine solche personale Vergesellschaftung <wie sie Marx wollte..., A.S.> läßt sich unter modernen industriellen Bedingungen nicht realisieren. Wir haben uns zu begnügen mit der niederen Phase. Eine industrielle Vergesellschaftung ist ohne Warenverkehr nicht möglich." (E.Braun /1/ 125).

Für die Aufhebung der Entfremdung als Aufgabe finde ich nun in den Texten recht wenig praktische Hinweise. Einerseits gibt man für die nächste Zeit größere Revolutionen auf und orientiert auf die Zivilisierung des Kapitalismus:

"Weit davon entfernt, daß diese "modern-bürgerliche Gesellschaft" zur Ablösung durch eine von Grund auf andere anstünde, käme es überhaupt erst einmal darauf an, daß sie sich als bürgerliche, d.h. durchgängig zivil verfaßte Gesellschaft dauerhaft etablierte." (H.Fleischer, /1/ 223).

Dies widerspricht in höchstem Maße den praktischen Erfahrungen mit der jetzt immer unverhüllter ausbrechenden ökologischen und menschlichen Barbarei des normalen realen Kapitalismus. Jede Aktivität zur Rettung sozialer "Errungenschaften" und ökologischen Überlebens ist notwendig, insofern auch die "Zivilisierung" der Barbarei. Aber an eine dauerhafte Etablierung ist nicht zu denken - und hier wird doch die Einbeziehung der gesamten Praxis gebraucht, die Wesenserkenntnis, die Sicht auf das noch Offene, Mögliche über die Grenzen dieser Gesellschaft hinaus. "Weit davon entfernt... daß eine Ablösung anstünde..." - wieso dies??? Sicher: Prozesse laufen recht lange auf den vorgegebenen Bahnen dahin - aber sie erreichen grundlegende Schranken ihrer Qualität, und dann erfolgt eine schöpferisch nutzbare Krise sprunghaft. Ich denke, daß die oben zitierte Aussage prinzipiell der Denkweise der Philosophie der Praxis und Revolution widerspricht, also nicht die wesentliche Konsequenz ist. Viel mehr an Aussagen dazu habe ich aber nicht gefunden.

Konkret wird in der mir bisher zugänglichen Literatur nur an einer anderen Stelle argumentiert: Da auch Sozialdienstwerte in den Warenwerten enthalten sind und die Sozialdienste zunehmen, könnten diese die industrielle Arbeit unter sich usurpieren (H.Müller in /1/). Aber auch hier stelle ich eine starke Begrenztheit der Aussage fest. Es sollte doch die Wert- Vergesellschaftung überhaupt kritisiert werden und die Sozialdienste sind selbst ein schlechtes Beispiel für Emanzipation. Verwertbar gemachte Sozialdienste bedienen zwar die Lobby von Sozialarbeitern, haben aber nur wenig oder nur indirekt mit der von der Praxisphilosophie angestrebten Emanzipation aller Menschen als Subjekte zu tun. Emanzipierte Subjekte brauchen keine Sozialdienste mehr - sie nehmen ihr Leben - völlig jenseits von Verwertungskategorien - in die eigenen Hände!

Wichtiger ist dagegen der Verweis auf die "kommunistische Revolution (...) gegen die bisherige Art der Tätigkeit" (MEW 3, 69f.) überhaupt (bei E.Gruber in /3/).

Hier fällt mir als sozial-politischer Träger dieser Forderungen nur die Arbeitslosen- und Sozialhilfebewegung ein.

Wichtig ist auch der Disput um die Möglichkeit der Einbeziehung des Verhältnisses der Menschen zur Natur in das Begreifen der Praxis (/4/). Die Debatte zeigt die Möglichkeiten der Einbeziehung der Natur in die Wert-Begrifflichkeit - aber auch die prinzipielle Möglichkeit und Notwendigkeit, die Beschränkung der "Ökonomisierung", "In-Wert-Setzung" und Quantifizierung überhaupt zu diskutieren und nachzuweisen (Immler in /4/). Dies ist besonders für die politische Orientierung bei der Abstimmung von sozialen und ökologischen Bedürfnissen und Interessen wichtig.

Bisher wird eine Möglichkeit der Anwendung des praktischen Begreifens der Praxis noch nicht genutzt (ansatzweise nur durch M.Blumentritt in /4/ 182, 183). Auch der Staats-Sozialismus war gelebtes Leben, war Praxis. Er war nicht nur Ideologie, die ideologiekritisch abzuarbeiten ist. Über 70 bzw. 40 Jahre lang arbeiteten, verbrauchten, liebten, strebten Menschen in ihrer Lebens-Praxis. Einerseits war es eine "Anomalie auf einem regionalen "Sonderweg"" (H.Fleischer, /1/ 225) - andererseits war es eine Leistung, jeden Tag, jede Woche, jeden Monat, jedes Jahr und Jahrzehnt einfach nur das Leben aufrechtzuerhalten, einen Krieg zu überstehen, Industrien und Kulturen zu entwickeln, die bis zur Erschöpfung des ökonomischen Wegs der extensiven Erweiterung doch für eine Mehrzahl der Menschen ein lebenswertes Leben ermöglichten. Die Bilanz des realen Kapitalismus wird - weltweit und zeitübergreifend gesehen - um kein Jota besser aussehen. Ist auch er eine "Anomalie"? Oder sind beide Wege als historisch und kulturell bestimmte und bedingte Formen möglicher menschlicher Praxis zu verstehen und zu begreifen?

6. Bilanz

Obwohl ich mein bisheriges Denken nicht aufgeben muß, ergibt sich einiges "Begreifen meiner Praxis" aus dem Praxiskonzept.

Ich kann meine Methodik, daß ich in dem ersten Buch schon viel von mir selbst hineinschrieb, jetzt noch anders begründen, als daß es mir so mehr Spaß gemacht hat. Es ist legitimiert durch das Praxiskonzept. Das Denken ist nur ein Teil meiner Praxis. Ich finde hier auch meinen (noch(?) nicht verwirklichten) Plan wieder, eine Diskussionsgruppe in Jena aufzumachen, in der nicht die großen Philosophen studiert, in der nicht referiert werden sollte, sondern in der wir uns in kleiner Runde austauschen über uns und unser Denken. Der Gedanke war mir gekommen, als ich Hegel las und verstand, daß er nur zu verstehen ist, wenn man sein Leben kennt. Im Kontrast dazu hatte ich Philosophie-Kolloquien in Jena erlebt, wo jeder der Referenten was anderes erzählt, ohne zu zeigen, wie er dazu kommt und die Zuhörer nur noch brav mitpinselten.

Inhaltlich formuliert die Praxisphilosophie genau die Frage, um die auch mein Denken kreist:

"Wie ist trotz der Tatsache, daß wir biologisch und gesellschaftlich bestimmt sind, freie Tätigkeit möglich?" (Markovic in /3/ 165) und als Aufgabe wird gestellt: die "Hindernisse und Zwänge zu analysieren, die dem handelnden und aktiven Subjekt versagen, seine absichtlichen Ziele zu erreichen." (J.Isreal in /3/ 133).

Wichtig ist inhaltlich die Orientierung auf die Offenheit, die Potentialität, die in meiner Ausgangsphilosophie (Hörz) zwar drinsteckt, aber nicht so offensiv ausargumentiert und ausgereizt wird wie möglich und notwendig.

Dies zeigt sich auch für das Menschenbild - bei dem der "ML" seine größten Lücken hat. Auch das Konzept des Menschen als "biopsychosoziale Einheit" erfaßt ihn eher als Summe der entsprechenden Einflußfaktoren und nicht als sinn- und richtungsgebene, höchste Form der schöpferischen Materie.

Für die Gesellschaftstheorie ist das Praxiskonzept grundlegend. Gesellschaft als selbstorganisierendes Geflecht verschiedener Praxen... / die dialektische Zirkularität von Humanisierung der Natur und Naturalisierung des Menschen... sollte eine Integration von Wissen über Menschen, Dialektik, Selbstorganisationskonzept und aktueller Situation ermöglichen. Was strenggenommen fehlt, ist einzig die Natur als schöpferischer Wirklichkeitsbereich, weil nach der Praxisphilosophie nur die Einheit Mensch-Natur betrachtet und als schöpferisch gefunden wird.

Vorsichtiger behandeln würde ich die praktizierte Aufgabe der "Grundfrage" und das Desinteresse für die Natur vor der Existenz der Menschen. Beidem ließe sich durch eine Beachtung der Dialektik sicher abhelfen. Bei der Grundfrage geht es nicht um die Nichtexistenz oder -Einflußnahme von Materie oder Geist, sondern nur ums Primat. Die Naturdialektik unter Beachtung der Dialektik des erkennenden (individuellen und gesellschaftlichen) Bewußtseins sollte auch erfaßbar sein und nicht aus dem Interesse herausfallen (bei Bloch geht es ja auch).

Zur Abrundung meiner Beschäftigung mit der Praxisphilosophie habe ich mir aus meiner Sammlung der Broschüren "Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie" diejenigen durchgesehen, die sich auf die Praxisphilosophen beziehen. Der Text besteht tatsächlich nur aus diffamierenden Bemerkungen im Oberlehrerstil. Eine inhaltliche Argumentation meint man sich sparen zu können, weil die Inhalte ja eh nur dem "antikommunistischen Charakter" untegeordnet seien...(u.a. /6/ 22).

Ich selbst brauchte vielleicht auch erst die Erfahrung der absoluten Entwicklungsschranke des Staats-Sozialismus. Ich wäre sonst sicher nicht so suchend auf dem Weg gewesen und hätte nicht verstanden, was die Entfremdungs- und Industrialisierungskritik eigentlich will (das hat wiederum etwas mit meiner -nichtentfremdeten - Lebenspraxis im Sozialismus zu tun). Wenn man jetzt wiederum nicht die Praxisphilosophie als Dogma nimmt, ist es faszinierend, wie stark sich viele verschiedene Denkansätze der Kritk der gegenwärtigen Gesellschaft integrieren lassen. Bei allen Sünden des "ML" - auch innerhalb seiner Entwicklung wurde einiges vorbereitet, was sich nutzen läßt. Die "Kritiken..." gehören nicht dazu. Ich verstehe auch jetzt erst einmal, wie schwer es gewesen sein muß, die neuen und wichtigen Dinge tröpfchenweise einfließen zu lassen. Daß sie in der "Wende" nicht zum Zuge kamen (außer in der Installation der Treuhand, die ursprünglich von Selbstorganisations-Denkern vorgeschlagen wurde), hängt auch mit der Theorielosigkeit der Opposition zusammen. Hoffentlich passiert das nicht noch einmal...

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/1/ Kritische Philosophie gesellschaftlicher Praxis - Auseinandersetzungen mit der Marxschen Theorie nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus, Hrsg: Eidam, H. u. Schmied-Kowarzik, W., Kassel 1995
/2/ Müller, H.: Praxis und Hoffnung, Studien zur Philosophie und Wissenschaft gesellschaftlicher Praxis von Marx bis Bloch und Lefebvre, Bochum 1986
/3/ Die Praxis und das Begreifen der Praxis. Vorträge einer interdisziplinären Arbeitstagung vom 20.-23. Juni 1984, Kasseler Philosophische Schriften 13, 1985
/4/ Immler, H., Schmied-Kowarzik, W.: Natur und Marxistische Werttheorie, Kassel 1988
/5/ Eidam, H., Schmied-Kowarzik, W.: Natur - Ökonomie - Dialektik. Weitere Studien zum Verhältnis von Natur und Gesellschaft, Kasseler Philosophische Schriften 26, Kassel 1989
/6/ Julier, E.: Weder modern noch marxistisch - Zur Marx-Interpretation des heutigen Revisionismus, 1974
/7/ Shiva, V.: Das Geschlecht des Lebens. Frauen, Ökologie und Dritte Welt, Berlin 1989
/8/ Mies, M., Shiva, V.: Ökofeminismus, Zürich, 1995


- 18.-19.11.95 - Annette Schlemm

 

 

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